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WIE ICH JÜRGEN HABERMAS MAL GUTE NACHT SAGTE

VON CORINNA STEGEMANN

Heute feiern wir den wohlverdienten 80. Geburtstag des Philosophen Jürgen Habermas, und bei der Gelegenheit fällt mir eine Begebenheit wieder ein, die nun schon viele Jahre zurückliegt. Sie spielt während meiner Studentenzeit und soll nun hier erzählt werden.

Ein Freund von mir stand damals mit seinem Publizistikseminar vor dem Problem, sich nicht über die Auslegung eines Teilbestandteils einer Habermas’schen Theorie einig werden zu können. Die Erörterungen dauerten wohl schon seit einiger Zeit an, als besagter Freund mir eines Abends das Problem darlegte. Ich habe keinen Schimmer mehr, was genau eigentlich das Problem war, es ist, wie gesagt, etliche Jahre her. Aber so weit ich mich noch erinnern kann, ging es um anderthalb oder zwei Sätze von Habermas, die des Freundes Seminar in zwei heftig miteinander diskutierende Deutungsgruppen spalteten. Ich konnte aus eigener Kraft an dem Abend jedenfalls auch nicht entscheiden, wie Herr Habermas die umstrittenen Sätze jetzt gemeint haben könnte und schlug deshalb vor, den Philosophen anzurufen, um ihn zu fragen.

Der Freund fand die Idee lächerlich und hielt mir entgegen, wir hätten ja nicht mal die Telefonnummer des gelehrten Mannes. Doch ich wusste, dass Herr Habermas in Frankfurt am Main wohnte, rief die Auskunft an und erläuterte mein Begehr. Die Dame am anderen Ende zickte kein bisschen herum und gab mir sofort die Nummer von Jürgen Habermas, der als einziger Teilnehmer diesen Namens in Frankfurt registriert war.

Ich möchte an dieser Stelle erwähnen, dass es sonst wirklich nicht meine Art ist, abends gegen zehn Uhr wildfremde ältere Herren anzurufen, doch wir waren jung und brauchten die Info.

Ich wählte die Nummer und nach nur sieben oder acht Freizeichen meldete sich auch ein Herr. Um sicherzustellen, dass er auch der Richtige war, fragte ich ihn: „Sind Sie der Jürgen Habermas? Der berühmte Philosoph?“ Herr Habermas antwortete: „Ja.“ Dann trug ich ihm das Problem des gespaltenen Seminars und der nicht ganz verstandenen Sätze vor und fragte ihn sinngemäß: „Haben Sie das denn so oder so gemeint?“ Was ich ihn im Wortlaut genau gefragt habe, weiß ich selbstverständlich nicht mehr, aber ich weiß noch wortwörtlich, was Jürgen Habermas geantwortet hat. Er sagte sehr freundlich: „Ich meinte tatsächlich Letzteres. Und jetzt möchte ich bitte weiterschlafen.“ Ich entschuldigte mich für die Störung und wünschte ihm noch eine gute Nacht.

Nun war das Problem gelöst und alle Unklarheiten beseitigt. Der Freund erzählte die Geschichte am nächsten Tag in seinem Seminar – allerdings mit der kleinen Unwahrheit, dass er selbst es gewesen sei, der den Philosophen einfach angerufen und nach der Lösung gefragt habe – und löste damit Begeisterung aus. Allerdings befürchte ich, dass Herr Habermas durch die Aktion noch einiges an Verdruss hatte, denn der Freund berichtete wenig später, der Philosoph sei jetzt bei der Auskunft nicht mehr eingetragen und unter der bekannten Nummer auch nicht mehr zu erreichen.

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