Haltung und Energie

Die Umbrüche der letzten anderthalb Jahrzehnte sind hier viel bewusster reflektiert: „cooltour 030“ präsentiert eine Reihe mit zeitgenössischer Dramatik aus Osteuropa

Der Name „cooltur 030“ klingt nach Kulturtourismus und literarischen Stadtspaziergängen. Doch unter diesem Label hat sich eine Gruppe von Theatermachern, Lektoren, Schauspielern und Organisatoren zusammengeschlossen, die sich das weite Feld der „Nachwuchsförderung“ als Ziel auf die Fahnen geschrieben hat. Um Duftmarken zu setzen, werden wöchentlich Story- und Bandslams, Gesangswettbewerbe und Performances angeboten. Jeder kann mitmachen, Hauptsache, er ist nicht etabliert.

„Das Wichtigste ist, dass ich mich nicht langweile!“, sagt die Schauspielerin Ellen Esser, Jahrgang 1942 und Kopf und Herz des Unternehmens, sie grinst dabei ebenso verlegen wie bestimmt unter ihrem flammend roten Haarschopf hervor. Seit Herbst letzten Jahres tritt das Projekt mit verschärftem Aktionismus von einer Ladengalerie im Tacheles aus in Erscheinung. Etwa mit szenischen Lesungen zeitgenössischer, unaufgeführter Dramatik. Prominenz wie die Schauspielerinnen Leslie Malton oder Anna Thalbach hat hier schon gelesen, Theresia Walser ein neues Stück vorgestellt. Seit Januar läuft nun eine Reihe mit osteuropäischer Dramatik.

Den Anfang machte die szenische Lesung von Laszlo Kornitzers Theaterfassung eines Romans von Mihaly Kornis: „Der Held unserer Geschichte“. Mit einem Habitus, der sich irgendwo zwischen Dante und Woody Allen ansiedeln lässt, beschreibt der ungarisch-jüdische Autor darin mit dem Wahnwitz der Verzweiflung eine jüdisch-ungarische Identitätssuche im postkommunistischen Budapest. Am Freitag gibt es mit „Schienen“ ein Stück der jungen serbischen Dramatikerin Milena Markovic, das sich mit den verkrüppelten Seelen einer Gruppe von Jugendlichen befasst, die mit Krieg, Terror und Tod aufgewachsen ist. Vielversprechend auch ein Stück der 1966 in Moskau geborenen Dramatikerin Xenija Dragunskaja „Oktoberland“ oder Andrej Wischnjewskijs „Verpfeift Euch! Oder Creme für die welke Haut“, zwei Stücke, die sich bissig und radikal mit Problemen und Nebenwirkungen des Lebens im neuen, totalitären russischen Kapitalismus auseinander setzen. Dass ausgerechnet in Berlin die osteuropäische Dramatik noch immer weitgehend unbekannt ist, finden Ellen Esser und die Regisseurin Sabine Hayduk, die Milena Markovics Stück szenisch einrichten wird, völlig unverständlich.

Für Esser, die in den Sechzigerjahren Schauspielerin bei Peter Zadek am Bremer Theater war, von wo aus einst das bundesrepublikanische Theater revolutioniert worden ist, atmet die osteuropäische Dramatik von heute viel vom Geist der späten Sechziger- und Siebzigerjahre in der BRD. Zwar seien die Themen ganz andere. Aber Atmosphäre, Energie und Haltung findet sie sehr vergleichbar. „Damals wussten wir auch, dass die Vergangenheit uns keine Orientierung mehr bieten konnte. Aber wohin es gehen sollte, wussten wir auch nicht genau.“ Die Umbrüche der letzten anderthalb Jahrzehnte findet sie in der zeitgenössischen Dramatik Osteuropas wesentlich bewusster reflektiert. Und während sie hierzulande an ersten Stelle immer persönliche Befindlichkeiten stehen sieht, hätten osteuropäische Autoren das Ganze, also die Gesellschaft, nicht aus dem Blick verloren. „Und mehr Humor als deutsche Dramatiker haben sie außerdem.“

ESTHER SLEVOGT

18. 2., 20 Uhr: Milena Markovic, „Schienen“, Ladengalerie im Tacheles