Die vormodernen Blindstellen

VON CORD RIECHELMANN

Solange Gewalt offen oder verdeckt das Verhältnis der Menschen bestimmt, kann die Vernunft nicht universell sein. Um der Vernunft die Möglichkeit zu eröffnen, universell werden zu können, muss ein Doppeltes beachtet sein: die von der Gewalt einiger Menschen über andere Menschen korrumpierten Verhältnisse des schlechten Jetzt sowie die vernünftige, ferne Möglichkeit der herrschaftsfreien Rede.

Für jede Kommunikation folge daraus: Jeder muss sein Bestes geben. Nur so können wir den versöhnten Gesellschaftszustand einer „idealen Sprechsituation“ ins Visier nehmen, in dem jeder mit jedem „einzig unter dem zwanglosen Zwang des besseren Argumentes“ kommunizieren könne, so Habermas.

Niklas Luhmann hat diese Position der Betrachtung menschlicher Gesellschaften und ihrer handelnden Subjekte als „prädarwinistisch“ bezeichnet. Nach Darwin, so Luhmann, kann man in der Evolution der Gesellschaft einzig einen Trend zur Steigerung der Komplexität erkennen und behaupten. Und Steigerung von Komplexität muss weder bedeuten, dass die menschlichen Wesen glücklicher werden, noch dass das Endprodukt eines Sozialsystems dem Sinn der Menschlichkeit näher sei als der schlechte Jetztzustand. Den gesellschaftlichen Zustand dauernd mit einem noch nicht erreichten Ideal zu konfrontieren, könne nichts anderes als ein protestierendes oder resignierendes Verhalten provozieren, lautet Luhmanns Einwand gegen Habermas, der da natürlich ganz anderer Meinung ist.

Darüber haben sich die beiden über Jahre auf einen Streit eingelassen, in dem jeder sein Bestes gab.

CORD RIECHELMANN, 48, Biologe, lebt in Berlin