Kultur durch Technik

Datenökonomie: Stefan Heidenreichs Studie „FlipFlop. Digitale Datenströme und die Kultur des 21. Jahrhunderts“

Als die ersten amerikanischen Jazzmusiker nach Europa kamen, sahen sie sich mit einem erstaunlichen Phänomen konfrontiert: Die europäischen Fans des Jazz, die die neue Musik mit Enthusiasmus aufgenommen hatten, nutzten ausschließlich Holzstäbe und Zimbeln als Rhythmusinstrumente. Das hatte einen simplen Grund: Die sensiblen Aufnahmegeräte der zeitgenössischen amerikanischen Studios ließen das Aufnehmen von Drums nicht zu. Da die Verbreitung von Jazz aber auf Schallplattenaufnahmen basierte, entsprang aus einer technischen Beschränkung eine Regel, die das Genre für all jene definierte, die nie einen amerikanischen Jazzclub betreten hatten.

Stefan Heidenreichs Studie „FlipFlop. Digitale Datenströme und die Kultur des 21. Jahrhunderts“ ist reich an solchen Anekdoten aus der Geschichte der Kommunikationstechnologien. Denn „FlipFlop“ handelt nicht nur von Rechnern, Daten und Internet, sondern von der kulturellen Wirksamkeit, die technische Innovationen entfalten. Inwiefern, so lautet die zugrunde liegende Frage, müssen kulturelle Phänomene anhand der Charakteristiken der sie formatierenden Technologien beschrieben werden?

Die Frage ist nicht neu und hat kurz vor der Jahrtausendwende eine ganze Generation von Kulturwissenschaftlern, Popjournalisten und Netzaktivisten beschäftigt. Im Zuge von Techno sahen sie sich gleich mit einer ganzen Reihe von Genres konfrontiert, die sich in erster Linie durch den Einsatz bestimmter Technologien definierten. Im Netz wiederum erwies sich für Künstler und Aktivisten schnell die Frage als zentral, wie bestimmte Standards, Architekturen und Nutzeroberflächen jegliche Äußerung präfigurieren.

Nicht von ungefähr beginnt Heidenreichs Buch also mit einem Postulat, das nur jene, die in den Neunzigern zu Hause geblieben sind, schockieren dürfte: „In ihren Anfängen sind Technologien der Kommunikation leer.“ Der retrospektive Blick auf bestimmte Anwendungen suggeriere fälschlicherweise, dass diese absehbar bereits in den Technologien angelegt gewesen seien: „Weder geben die möglichen Anwendungen technische Lösungen vor, noch bestimmt umgekehrt eine Technologie, welche Daten in den Speichern und Kanälen hausen.“ Am Beispiel des Films zeigt sich aber auch, wie eine technische Neuerung eine bestimmte Form beinahe erzwingt: „Es ist nicht der Film, der kürzere Belichtungszeiten erforderlich macht, sondern umgekehrt eine Verkürzung der Belichtungszeiten, die das Medium Film geradezu fordert.“

„Wenn ein Datenstrom technisch geschaltet ist, erweist er sich für bestimmte kulturelle Formen als attraktiv“, schreibt Heidenreich weiter. Wenn dem so ist, dann stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis Technologie, Daten und Ökonomie zueinander stehen. An einer Fülle von Beispielen unter anderem aus der Geschichte der Fotografie und des Kinos gelingt es Heidenreich so zu zeigen, wie bestimmte Innovationen von Bastlern und Ingenieuren durch ungeahnte Anwendungen bestimmte Datenströme fließen lassen. Sie werden ihrerseits durch Regeln gesteuert, die wiederum eng mit ökonomischen Gesetzmäßigkeiten korrespondieren. Eine davon lautet: „Konventionen oder Regeln setzen sich durch, wenn der Anreiz, Erfolge zu imitieren, größer ist als der, sich zu unterscheiden.“

Heidenreichs Analyse folgt der gleichermaßen techno- wie tautologischen Prämisse, dass kommuniziert wird, „wo immer es Techniken der Kommunikation gibt“. Sie erkennt Relationen zwischen kulturellen Merkmalen und ökonomischen Zuständen der Sättigung und Dynamisierung, Öffnung und Schließung. Die Differenz zwischen Werken bildet dabei das Scharnier, das Technologien und Kultur miteinander verbindet.

Heidenreich erklärt schlüssig, warum der Ruf nach „Content“ für die Netze letztlich nur den Versuch bemäntelt, das durch die digitale Reproduzierbarkeit hervorgerufene Ende der Knappheit durch Technologien der Schließung in einen Zustand künstlicher Verknappung zurückzuführen. „Content“ interessiert ihn nur, insofern seine konkrete Gestalt durch Mechanismen von Distinktion und Regel bestimmt wird.

Nutzer und Produzenten von Datenströmen kommen als Akteure in Heidenreichs Buch eigentlich nicht vor. Das wäre nicht zu kritisieren, wenn Heidenreich nicht en passant weit reichende Aussagen über bestimmte Eigenschaften von kulturellen Prozessen machen würde, die sich aus ihren technischen Bedingungen allein nicht erklären lassen. Kultur entsteht für Heidenreich „als eine Form von Überschuss“ in allen Datenströmen „von selbst“. Wo Kultur aber von selbst entsteht, muss nach den sie formierenden Kräften außerhalb ihrer technologischen Voraussetzungen nicht gefragt werden. An die Stelle von Bedeutung tritt in Heidenreichs Lesart schlicht die „Bindung“ .

Heidenreich betrachtet etwa die Folgen von Datenströmen, die zunehmend durch die Algorithmen von Suchmaschinen gelenkt werden. In Bezug auf die Verarbeitung des 11. September kommt er zum Schluss: „Quellen im Internet sind maßgeblich mit dafür verantwortlich, dass große Mengen an Information und auch Desinformation zusammengetragen werden konnten, die im Format der Verschwörungstheorien kausale Ketten rund um die Katastrophe bilden. Die Darstellung des Ereignisses in den herkömmlichen Medien stellt demgegenüber nur eine und bei weitem nicht die konsistenteste Erklärung dar.“

Die Frage, wie sich die jeweilige Lesart der Ereignisse im Bewusstsein einzelner Individuen Konsistenz verschaffen kann, dass wahlweise amerikanische Geheimdienste, die Illuminaten, die Juden oder eine islamistische Terrorgruppe die Urheber der Anschläge waren, erscheint in Heidenreichs Perspektive als irrelevant. Sein (post)-strukturalistischer und antihumanistischer Blick registriert die ideologischen Strukturen nicht, die die diskursive Gestalt eines jeden Datenstroms unter anderem figurieren. Das tut seiner Analyse der Genese der technischen Grundlagen kultureller Phänomene allerdings keinen Abbruch. Sie belegt in Hinblick auf die modernen Medien die alte Erkenntnis, dass kulturelle Phänomene grundsätzlich nicht von ihren Techniken zu trennen sind.

ULRICH GUTMAIR

Stefan Heidenreich: „FlipFlop. Digitale Datenströme und die Kultur des 21. Jahrhunderts“. Carl Hanser Verlag 2004