Der Herumlungerer

GESELLSCHAFTSSTUDIE Über einen sehr speziellen Sozialphänotypen

„Machste gleich ’n 16er-Ritzel rein, biste gewaschen und gekämmt für immer“

Wann die menschliche Geschichte den Herumlungerer ersonnen hat, liegt, soweit wir die soziologisch-historische Literatur überblicken, im Dunklen. Womöglich ist der Herumlungerer eine Erscheinung und tückische Hervorbringung der industriellen Massengesellschaft, eventuell insbesondere ihrer späten Formation als einer beinahe schon vollständig postlagernden oder jedenfalls postmateriellen (i. e. der Dienstleistungsgesellschaft im Zeichen von Telekommunikation, Globalismus, Totalterror usw.).

Denn obwohl der Herumlungerer bereits in den frühen Siebzigerjahren allenthalben gesichtet wurde und dazumal – wegen Quasivollbeschäftigung und sozialdemokratischer 15-Stunden-Woche – mutmaßlich seine sogar höchste Ausprägung und schönste Blüte erfuhr, stößt man auch und gerade dieser Tage trotz nicht und nicht abreißender Appelle an die „Leistungsbereitschaft“ und nicht und nicht abflauender, ständiger Beschwörungen des Sich-wieder-lohnen-Sollens von Leistung und Leistungsbereitschaft überall auf die unerbittlichsten Exemplare dieses insgesamt unklar motivierten und diffus strukturierten Sozialcharakters.

Was will er, dieser sehr ungenaue Herumsteher, der sich beispielsweise äußerst gerne und engagiert an irgendwelchen Baustellen und Baugruben einfindet, und zwar an den entschieden nichtigsten, an denen es rein gar nichts zu sehen gibt, weil die Arbeiten turnusgemäß sieben Tage die Woche ruhen?

Worüber mag dieser ausgesprochen opake Herumsteher und Herumlungerer, nicht selten zur Kleingruppierung arrangiert, da diskutieren und debattieren? Über die allgemeine Wohlgeratenheit der Welt, in der, wenn schon sonst komplett nichts mehr los und gebacken ist, es halt wenigstens noch ein Bauloch an der südlichen Peripherie Saarbrückens gibt? In welchem, bitte schön, der Augenschein trügt nicht, sich durch und durch nichts ereignet? Worüber man sich als Herumlungerer mit FH-Abschluss aber aus ethischen und kognitiven Gründen zweifellos jeden Tag aufs Neue Rechenschaft ablegen muss? Könnte sein. Man weiß es nicht. Man vermutet es nur.

Der ausgebildete Herumlungerer ist anzutreffen darüber hinaus vornehmlich und nahezu zwangsläufig auf sogenannten Arealen sogenannter Automobilwerkstätten und verwandter Betriebe. Egal zu welcher Tageszeit, ob morgens, spätmorgens, mittags, frühnachmittags usw. usf., der Herumlungerer steht bereits da, gelehnt an eine Öltonne, genüsslich eine paffend und ein Fanta oder ein Schwippschwapp in der blitzsauberen Hand, oder gebeugt unter einer Hebebühne, auf der aber unter keinen Umständen sein eigener Kübel, sondern immer der eines Wildfremden aufgebockt ist, über dessen ölig-versautes und rostig-marodes Unterboden- und Innenleben es fachkundige Urteile en suite zu fällen gilt, und zwar unbedingt ungefragt und dem schraubenden und ächzenden Meister zum tüchtigsten Tort: „Schlimm, schlimm, schlimm.“ – „Die Kurbelwelle kannste knicken, ganz klar.“ – „Wenn der noch mal den TÜV kriegt, scheiß ich meiner Omma uffn Kopp!“

Wo kommt er her, der Herumlungerer? Wo will er hin? Wo er hinwill, ist klar. Weg will er auf keinen Fall. Dem Bleiben, dem sturen, dem sturheilen und heillos steinsturen Bleiben widmet er sein vollumfänglich humanistisches Sein. Seine Herkunft, seine Intentionen und seine Pläne indes sind ungeheuer indifferent und im Grunde restlos unbekannt. Das Nichtwissen um sie ist das größte. Die darob ins Kraut schießenden Mutmaßungen sind folglich die fürchterlichsten. Man nimmt hie und da unterdessen an, dass die bis dato allzu unbeachtet gebliebene Armee der Herumlungerer und Herumsteher die finstersten Umsturzabsichten ausbrütet und in eine super- und supranationale Verschwörung der Obstinaten, einer Tarnnachfolgeorganisation der Illuminaten und der Paten, verwickelt und verstrickt ist.

Eine mildere Erklärungsvariante greift zu der Hypothese, die Herumlungerer leisteten lediglich eine Art Leistungsbereitschaftsdienst ab. Wir sollten uns von einem solchen sozialpädagogisch in die Irre leitenden Beschwichtigungsversuch nicht blenden lassen und die allerhöchste Wachsamkeit an den Tag legen. Denn was kann sich hinter einem Herumlungerersatz wie „Machste gleich ’n 16er-Ritzel rein, biste gewaschen und gekämmt für immer“ anderes verbergen als – das klammheimlichst heraufziehende, grauenhafteste Unheil in jederlei Hinsicht? Für ausnahmslos alles und jeden? Eben. JÜRGEN ROTH