Das Auswärtige Amt wartete ab

Nicht immer reagierte Außenminister Fischer so schnell wie im März 2003

BERLIN taz ■ Den ersten konkreten Vorwurf, als Außenminister habe er von Visamissbrauch gewusst, ohne zu handeln, hat Joschka Fischer gestern souverän gekontert. Die Rheinische Post hatte herausgefunden, dass Fischer am 19. März 2003 bei einer Sitzung in seinem Haus zum Thema persönlich anwesend war. Er wusste also Bescheid.

Fischers Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Schon am 28. März 2003 sei eine Reaktion erfolgt, die Missbrauchsmöglichkeiten wurden abgestellt. Das ist, laut Dokumenten, die der taz vorliegen, korrekt. Aber hat Fischer immer so schnell reagiert?

Sein Amt jedenfalls hat es nicht. Eine Vielzahl von Hinweisen, Warnungen, ja flehentlichen Hilferufen ging lange vor dem März 2003 im Außenministerium ein. So kabelte zum Beispiel der Botschafter in Kiew, Dietmar Stüdemann, schon ein Jahr zuvor nach Berlin. „Zustände vor den Toren der Visastelle der Botschaft Kiew drohen … zu eskalieren. Wird nicht unverzüglich Abhilfe geschaffen“, warnte Stüdemann, „kann ich auch nicht mehr für die Sicherheit des Personals der Botschaft Verantwortung tragen.“ Kaum vorstellbar, dass ein solcher Appell nicht bis in die Spitze des Auswärtigen Amtes weitergeleitet worden ist.

2.000 Personen versuchten damals täglich in Kiew, Visa für Deutschland zu bekommen. Nur durch massiv verstärkte ukrainische Polizei („mit schwerer Bewaffnung und unter Anwendung von Gewalt durch die UKR-Miliz“) konnten die Handgreiflichkeiten unter den Wartenden geschlichtet werden.

Besonders heikel erwies sich für die Botschaften damals ein Ersatzreisedokument, das unter Rot-Grün kreiert wurde, um die politisch gewollten höheren Visazahlen zu ermöglichen: Der so genannte „Reiseschutzpass“ des Weinsberger Unternehmers Heinz Martin Kübler. Ähnliche Papiere hatte es zuvor auch unter Außenminister Kinkel gegeben. Kübler aber erreichte, dass seine Schutzpass auch in der Ukraine selbst verkauft werden durfte. Ein Vertriebsweg, der dem Missbrauch Tür und Tor öffnete. „Die Verwendung von sog. Reiseschutzpässen bei der Sichtvermerkserschleichung entwickelte sich Anfang des Jahres 2002 zu einer neuen, nicht mehr kontrollierbaren Arbeitsweise“, warnte das Bundeskriminalamt (BKA) Mitte 2002 das Innenministerium. Das Geschäft werde von „bedeutenden, international tätigen kriminellen Organisationen kontrolliert“.

Auch die Krise in Kiew wurde durch die flutartige Vergabe von Reiseschutzpässen (RSP) ausgelöst. Die Botschaft forderte, „die Zahl der täglich in der Ukraine vertriebenen RSP den Bearbeitungskapazitäten der Botschaft anzupassen“. Eine Begrenzung sei weder möglich noch gewollt, antwortete Kübler – seine Interessen treffen sich mit den politischen des Außenministeriums.

Das Vertrauen der Sicherheitsbehörden in die Reaktionswilligkeit des Auswärtigen Amts war damals stark eingeschränkt. Es sei ratsam, merkte ein BKA-Mann im Mai 2002 an, den Problembereich Reiseschutzpass erst intern zu erörtern – und dann an Fischers Behörde heranzutreten. CHRISTIAN FÜLLER