Musik liegt in der Luft

In Hamburg werden U- und andere Bahnhöfe mit Klassik beschallt. Sie soll das Wohlbefinden der Fahrgäste erhöhen und Junkies vertreiben. Eine Reise zu den Schallquellen

Geht man in Bremen oder Hannover durch den Bahnhof, hört man: Schritte, Stimmen, Durchsagen, alle möglichen Geräusche, die so ein Bahnhof eben macht. Am Hamburger Hauptbahnhof gibt es diese Geräusche auch, aber da ist noch etwas. Man hört es, wenn man Richtung U-Bahn geht oder Richtung Wandelhalle. Es schleicht sich ins Bewusstsein, es wird lauter, es ist Musik, gemacht von Orchestern, die nach batteriegetriebenen Häschen klingen, aber das ist vielleicht Geschmackssache. Die Musik scheint keinen Anfang zu haben und kein Ende, und: sie verfolgt einen weiter, hinein in die U-Bahnstationen der Stadt, in die Passagen und Fußgängertunnel.

31 Hamburger U-Bahn-Stationen werden inzwischen mit Klassischer Musik beschallt. 15 weitere werden darauf vorbereitet, und es ist kein Ende in Sicht: „Die Musik ist eine angenehme Untermalung für die Reisenden“, sagt Andreas Ernst, der Pressesprecher der Hamburger Hochbahn. Und das ist noch nicht alles: Seit die Hamburger U-Bahn Klassik spielt, habe es „eine deutliche Verdrängung der Betäubungsmittelszene“ gegeben.

Tatsächlich ist man bei der Hamburger Hochbahn davon überzeugt, dass Klassische Musik die Junkies vetreibt. Man glaubt das seit dem ersten Beschallungsexperiment, das 1998 an der Haltestelle Hauptbahnhof durchgeführt wurde. „Das gibt es offenbar eine Unverträglichkeit“, glaubt auch Adolph Nielsen, der für die Beschallung zuständige Techniker. „Wenn die auf Entzug sind, brauchen die Action.“

Wir befinden uns in der musikalischen Schaltzentrale der Hamburger Hochbahn, einem unscheinbaren Gebäude neben der Haltestelle „Berliner Tor“ unweit des Hauptbahnhofs. Vor uns eine Reihe von mannshohen Schaltpulten, voll mit Steckern und Kabeln und Lämpchen, und dazwischen: ein stinknormaler Satellitenreceiver. Es gibt keinen Raum bei der Hamburger Hochbahn, in dem der Klassik-DJ sitzt, es gibt nicht einmal jemand, der die Musik aussucht und auf Band spielt. Die Musik kommt von einem Satelliten. Von der Hamburger Hochbahn wird sie nur auf die U-Bahn-Stationen verteilt, mittels dick isolierter, eigentlich aber hauchdünner Fasern. „Lichtwellenleiter-Übertragung“, sagt Adolph Nielsen stolz, der privat keine Klassik hört. „Nee“, sagt er und schüttelt den Kopf, die Frage findet er wohl absurd.

Die Hamburger U-Bahn hat keine extra Klassik-Lautsprecher, aber das ist auch nicht nötig. Bevor die Musik von Nielsens kleiner Schaltzentrale in die Bahnhöfe geht, wird sie „komprimiert“, was bedeutet, dass die Dynamikschwankungen eingeebnet werden. „Sonst würde man die leisen Stellen gar nicht mehr hören, und bei den lauten Stellen würde man zusammenzucken“, sagt Nielsen.

24 Stunden am Tag werden die Hamburger U-Bahnhöfe mit komprimierter Klassik beschallt, doch die Musik vom Satelliten ist nicht umsonst. Dahinter steckt die „Muzak Funktionelle Musik GmbH“ in Düsseldorf, eine Tochter des weltweit operierenden Muzak-Konzerns, der auf Hintergrundmusik spezialisiert ist. „Die richtige Atmosphäre in Ihrem Unternehmen ist wie eine Einladung an Ihren Kunden und Gäste, sich bei Ihnen wohl zu fühlen“, steht auf der Homepage von Muzak. „Dazu tragen nicht nur die optische Präsentation, die richtige Beleuchtung und die Farbgebung allein bei – auch die Akustik ist für das Ambiente von größter Bedeutung. Die geeignete Musik richtig eingesetzt, in angenehmer Lautstärke auf die Tageszeit abgestimmt, wird zum Umsatz und somit zum Erfolg Ihres Unternehmens beitragen.“

In Deutschland bietet Muzak zwölf verschiedene Kanäle an, von „U.K. Charts“ über „Soulful“ bis „Easy Listening“. Unter der Rubrik „Classical“ steht als Erklärung: „klassische Musikwerke der großen Komponisten, interpretiert von berühmten Orchestern und Interpreten. Tempo: leicht/mittel“.

„Wir beliefern sonst vor allem Hotelketten wie Dorint und Mövenpick, aber auch Kaufhäuser wie Peek & Cloppenburg“, sagt Michael Hartmann, Mitglied der Geschäftsführung bei Muzak Deutschland. „100.000 verschiedene Melodien“ hätten sie im Angebot, „das wird ständig ergänzt. Neue kommen hinzu, andere fallen weg.“ Klassik sei allerdings im Gegensatz zu Programmen wie „Pop-Dance“ relativ zeitlos: „Das ist nicht so den Geschmacksveränderungen unterworfen.“

Die Auswahl der Stücke wird bei Muzak nach einem streng geheimen Katalog getroffen, der 36 Kriterien enthält. „Stücke, die zu schwer, zu emotional sind, werden dort nicht übertragen“, sagt der Geschäftsführer, mehr könne er aber nicht verraten: „Das berührt unser Geschäftsgeheimnis.“ Auch die Musikredakteure, die die Auswahl treffen, sind nicht zu sprechen. Es soll aber welche geben.

Ist die Musik einmal ausgewählt, wird sie von Düsseldorf über eine Standleitung in die Niederlande geschickt und von dort an den Satelliten „Eutelsat 7 Grad Ost“ gefunkt. „Und jetzt raten Sie mal, was das kostet“, sagt der Geschäftsführer. „Viele tippen ja auf eine fünfstellige Summe. Es kostet aber nur 78,87 Euro im Monat.“

Muzak entstand 1934 in den USA aus der Vergängerfirma „Wired Music“, die von General Owen Squier, dem Chef des „U.S. Army‘s Signal Corps“ gegründet worden war. Squier hatte sich bereits 1922 das Patent für eine Technik gesichert, mit der Musik über Telefonleitungen verbreitet werden konnte. Der General stellte Experimente an, wie die Produktivität in Fabriken durch das Abspielen eigens arrangierter, populärer Musik zu erhöhen sei. Später machte er die ersten Versuche mit Musik in Kaufhausketten.

Das Geheimnis von Muzak, das die Firma nicht preisgeben will, hat der Musikwissenschaftler Jan Felix Frenkel von der Universität Halle untersucht. Frenkel fand bespielsweise heraus, dass bei Muzak die Titel nach dem Prinzip steigender Emotionalität geordnet werden. Das Tempo der Musik , das sich grundsätzlich am menschlichen Puls orientiert, zieht leicht an. Wichtig bei Muzak ist auch die Wiedererkennbarkeit, die durch die Bevorzugung einfacher musikalischer Strukturen gewährleistet wird. Meist werden Titel so arrangiert, dass sie zwar bekannt klingen, aber nicht wirklich zu identifizieren sind. In diesem Fall würden sie zu stark ablenken, vermutet Frenkel, dessen Arbeit in einem musikwissenschaftichen Internetprojekt nachgelesen werden kann (www.musikwiss.uni-halle.de/musikhoer-reader).

Die Musik von Muzak ist nicht zu verorten, weil sie aus vielen kleinen Lautsprechern kommt. Die Musik von Muzak ist überall, und gleichzeitig ist sie nirgends. Dazu passt auch die Beobachtung, dass in den Titeln auf Sologesang verzichtet wird. Singende Stars könnten die Aufmerksamkeit zu sehr auf sich lenken, sie sind Träger von Emotionen. Zudem könnte der Text zum Zuhören verleiten. Schon Muzak-Gründer General Squier hatte den Gesang aus seinem Imperium verbannt, und wer bei der Hamburger U-Bahn genauer hinhört, merkt, dass dort nie, wirklich nie gesungen wird.

Doch zum Hinhören ist die Musik von Muzak nicht gemacht. Daniel Wiese