Wie die Krähen

DAS SCHLAGLOCH von KERSTIN DECKER

Wir sind eben alle sehr abgeleitete Menschen, am meisten aber die von Ver.di

Im Februar in Berlin reden alle über eins: über Filme. Seit 55 Jahren schon. Dabei sind die Demos vor dem Berlinale-Palast manchmal viel spannender als Kino. Jedes Jahr macht hier irgend jemand eine Demo, schon wegen der latenten Weltöffentlichkeit. Am Dienstag zum Beispiel gab es eine ganz bemerkenswerte Demo in der Berlinale-Meile. Sie fing gerade an, als Petzolds „Gespenster“ zu Ende waren. Nun ist es gar nicht so leicht, eine Demo bei der Berlinale zu erkennen. Und auch ich hätte die vier Fußgänger im Nieselregen beinahe übersehen, aber sie liefen mitten auf der Straße. Auch das kann im Ausnahmezustand eines Festivals durchaus vorkommen, aber vor den vier Fußgängern fuhr auch noch ein Polizeiauto. Das war auffällig.

Okay, das Polizeiauto fuhr nicht nur wegen der vier Fußgänger, eine Trommelgruppe war auch dabei. Das war logistisch vollkommen in Ordnung, weil sonst doch kein Mensch verstanden hätte, dass die vier Fußgänger und das Polizeiauto zusammengehörten. Und die vier Fußgänger konnten schließlich nicht selbst trommeln, weil zwei von ihnen das Transparent festhalten mussten. Auf dem Transparent stand: „CinemaxX spielt uns das Lied vom Hungerlohn“. Was war denn das? Deutsche Filmtitel sind wirklich oft bescheuert, aber auf so etwas wäre nicht mal ein Verleih gekommen. Doch plötzlich war alles klar: Ver.di sitzt ja auch am Potsdamer Platz, das ist nicht wirklich weit weg, werden die Ver.di-Leute sich gedacht haben, da gucken wir doch glatt mal vorbei. Nur, wer hungert?

Die Petzold-Pressekonferenz hatte dann schon angefangen, und das war auch gut so, denn man stelle sich vor, jemand von den vielen Journalisten aus allen Ländern – so viele wie diesmal waren es noch nie – hätte diese Demo gesehen. Oder gar Cécile Bayiha!

Cécile Bayhiha ist die kleine Pygmäin aus „Man to Man“. „Man to Man“ war der Berlinale-Eröffnungsfilm von Regis Wargnier, den alle so verrissen haben, als würden sie ihn mit einem deutschen Berlinale-Beitrag aus den Neunzigern verwechseln. Cécile Bayiha also ist eine ganz kleine Afrikanerin, über die sich im Film die britischen 19.-Jahrhundert-Naturforscher (Joseph Fiennes und die anderen) streiten: Tier oder Mensch? Dazu muss man wissen, dass die Pygmäen im 19. Jahrhundert mitten im Urwald entdeckt worden sind, weshalb man einige von ihnen einfangen und erforschen wollte, ob es sich hier nicht um das missing link zwischen Affe und Mensch handelt. Natürlich fand der Film die Tier!-Options-Partei nicht gut, was einen vereinzelten Berichterstatter veranlasste, „Man to Man“ ausdrücklich zu mögen. Schließlich habe er eine humane Botschaft. Ja, aber eine humane Botschaft hat Ver.di doch auch!

Auf der Pressekonferenz zu „Man to Man“ war zuerst alles wie im 19. Jahrhundert. Die Europäer redeten und redeten, und irgendwann redete dann auch Lomama Boseki, das ist der Pygmäen-Mann von Cécile Bayiha im Film. Boseki ist zwar kein Pygmäe, nur ungefähr so klein, aber auch er kannte bis jetzt nichts von der Welt als sein afrikanisches Dorf. Städte, hat er inzwischen festgestellt, sind zuletzt auch nicht viel anders als afrikanische Buschdörfer. Das war so beeindruckend unbeeindruckt, wie er das sagte, auch wenn es nicht ganz stimmt, denn Ver.di haben die in Bosekis Dorf bestimmt nicht. Bis dahin saß Cécile Bahiya immer noch schweigend da. Kristin Scott Thomas muss das irgendwann aufgefallen sein, denn sie fing an, leise mit Cécile zu reden, auch Regis Wargnier legte bald väterlich seinen Arm um Céciles Stuhllehne, und dann wollte wirklich jemand etwas von ihr wissen. Ob es sehr schwer für sie war, diesen Film zu machen.

Cécile hatte noch immer den Wargnier-Arm hinter sich und die Scott Thomas neben sich, aber sie lächelte und sagte, nein, das war überhaupt nicht schwer, denn einen Film zu machen ist viel leichter als Feldarbeit. Keiner ließ sich etwas anmerken, aber solche Sätze passen einfach nicht auf ein Filmfestival. Vielleicht unterscheiden sich die Menschen am meisten nach ihrem Realitätssinn. Wir sind eben alle sehr abgeleitete Menschen, am meisten aber die von Ver.di. Nur Cécile Bahiya denkt noch ganz und gar unabgeleitet.

Gut, dass sie diese Demo nicht gesehen hat. Hinter den vier Fußgängern fuhr ein Ver.di-Jeep, da saß eine Ver.di-Frau drin und oben auf dem Jeep steckte eine lange Stange, und ganz oben an der Stange flatterte ein Ver.di-Wimpel. Das war genau wie in dem einen „Olsenbande“-Film vor dreißig Jahren, wo Börge in einem ganz kleinen Boot mit ultralanger Stange und kleinem Wimpel oben dran sehr langsam zwischen den beiden Hälften einer hochgeklappten Klappbrücke durchfährt, damit die Polizei nicht rüberkommt. Es gibt eben Dinge im Leben, die vergisst man nicht – den Namen Börge zum Beispiel, das Boot und diese Ver.di-hungert-Demo.

Irgendwie wollte ich das dann aber doch genau wissen, und einer von den beiden, die nicht das Transparent festhalten mussten, hatte Zettel mitgebracht. Da stand es in dicken schwarzen Buchstaben: „Ganz unten. Armutslöhne bei CinemaxX.“ 1.098 Euro, schreibt Ver.di, kriegen die Kinomitarbeiter. Brutto. Bei Vollzeit. Gibt es eigentlich Vollzeit im Kino?

Trotzdem, so etwas verändert den Blick auf die Mitmenschen. Im CinemaxX 7 zum Beispiel zwängt sich an jedem Berlinale-Nachmittag um vier die gesamte Weltpresse als eine einzige dicht drängelnde Herde durch die enge Tür. Das ist ein ganz einfacher Fall von Darwinismus. Es ist nicht Platz für alle, survival of the fittest; die Einlasser aber sind die Dompteure, die die natürliche Auslese überwachen und das Schlimmste verhindern. Und dafür kriegen sie nur 1.098 brutto?

Schließlich hat der Film eine humane Botschaft. Ja, aber eine humane Botschaft hat Ver.di doch auch!

In Petzold-Filmen weiß man nie gleich, worum es geht. Grob gesagt, es geht es in „Gespenster“ um zwei Mädchen, die seltsam ortlos sind im Leben. Petzold erklärt das sehr schön. Er sagt, sie leben wie in „einer Blase“. Also in einer Wirklichkeit, die nur sie verstehen. Nicht ganz real, aber irgendwie doch da. Also genau wie Ver.di. Ich glaube, ich werde Petzolds „Gespenster“ jetzt viel besser verstehen. Ich war nämlich nicht drin wegen des Darwinismus und denen „ganz unten“. Kein Drohen, kein Betteln hat geholfen. Da müssen Sie nächstens früher kommen!, haben sie gesagt und dabei geguckt wie Cécile Bayiha. Als würden sie den ganzen Tag auf dem Feld arbeiten. Wahrscheinlich finden sie Über-Filme-Schreiben noch viel abgeleiteter als Filmedrehen. Vor Kinos den Darwinismus unter Kontrolle zu halten dagegen ist etwas sehr Reelles. Vielleicht haben die Ver.di-Leute ja doch recht mit ihrer Demo, und dazu die humane Botschaft!

Draußen vor dem Berlinale-Palast auf ihren Schlafbäumen versammelten sich schon die Krähen. Zum ersten Mal wusste ich, warum sie das machen. Das ist ein Sitzstreik. Krähen wissen genau, was schön ist: alles, was schwarzgrau aussieht, Federn hat und krächzen kann. Insofern sind die Krähen die natürlichen Gegner der Berlinale. Sie wollen den Potsdamer Platz wieder so, wie er früher war. Eine anheimelnde, leere Stadtbrache, und sie wohnen ganz allein hier. Jetzt schauen sie voller Hochmut auf das flügellose Fußvolk unter ihnen. Jeden Abend zwischen fünf und sechs sind sie fast so laut wie die Trommelgruppe, und ihr Sitzstreik dauert bis zum nächsten Morgen.

Fotohinweis: Kerstin Decker lebt als Publizistin in Berlin