SchülerInnen für Chancengleichheit

Einen ersten Erfolg haben Frankreichs SchülerInnen erreicht: Die Abiturreform hat der Erziehungsminister vorerst gestrichen. Dennoch ziehen weiter Zehntausende auf die Straßen, um für bessere Lehr- und Lernbedingungen zu demonstrieren

AUS PARIS DOROTHEA HAHN

„Ich will meinen Kunstunterricht wieder haben“, verlangt ein Mädchen auf ihrem Pappkarton, der vom Eisregen dunkelbraun geworden ist. „Gegen die Abschaffung des Sportunterrichts“, hat ein paar Demonstrationsreihen weiter eine Schülerin auf ihrem Karton geschrieben. „Die Schule ist kein Spielplatz für Minister“, steht auf dem regenschweren Bettlaken, das drei Jungen vor sich schwenken. „Vom Kindergarten bis zum Abi: Chancengleichheit“, ist auf einem anderen Spruchband zu lesen. Und – noch deutlicher: „Fillon – schmeiß dein Gesetz auf den Müll“.

Rund 60.000 SchülerInnen sind an diesem Dienstagnachmittag in Paris auf der Straße. Fast noch mal so viele sind es in Bordeaux. Für die meisten von ihnen ist es das erste Mal: die erste Demonstration. Die ersten Transparente. Die ersten skandierten Slogans. Sie tun es laut und lustvoll. Sie sind zwischen 14 und 18 Jahre alt. Rennen eingehakt über die Boulevards. Blasen in Trillerpfeifen. Rufen Parolen, die sie schon von ihren Eltern kennen, wie „Tous ensemble“ – alle gemeinsam, bis zum Heiserwerden. Recken Fäuste hoch. Und verteidigen so ihre Schule. Und ihr „bac“ – das Abitur. Gegen Erziehungsminister François Fillon, der zur selben Zeit im Parlament sein Bildungsrahmengesetz vorstellt. Der Minister will das Kunststück vollbringen, zugleich Geld zu sparen und dennoch die Schule zu verbessern. Getreu der Sparpolitik seiner Regierung.

Schon am ersten Aktionstag der SchülerInnen, am Donnerstag zuvor, demonstrierten überraschend viele. Zentrale Forderung war die Abschaffung dessen, was der Minister die „Reform“ des Abitur nennt. Fillon hat sich an eine mehr als zwei Jahrhunderte alte, aus napoleonisch-zentralistischen Zeiten rührende französische Institution gewagt: das zentrale Abitur. Statt zwölf Prüfungen, die überall im Lande – von der ostafrikanischen Insel La Réunion über Lyon bis hin auf die Karibikinsel Martinique identisch sind, will er eine „fortlaufende Leistungskontrolle“ einführen, die sich über mehrere Jahre hinzieht. Und er will nur noch in sechs Fächern Prüfungen machen. „Das ist ungerecht“, erklärt stellvertretend für Zigtausende, die 17-jährige Anandy aus einer Pariser Vorstadt, „damit können Lehrer die Lieblingsschüler favorisieren. Prüfungen müssen für alle gleich sein.“

Nachdem der Ruf: „Rühr mein Abi nicht an“, tagelang quer durch Frankreich schallte, hat Minister Fillon das Abiturkapitel aus seinem Gesetz gestrichen. Vorerst. Um den SchülerInnen den Wind aus den Transparenten zu nehmen. An den anderen Teilen seiner „Reform“ hält er fest. Darunter die Verstärkung von Förderklassen, mehr Einzelunterricht, eine individualisierte „Leistungsbilanz“ für „Problemschüler“ und die Verpflichtung zum Lernen von zwei modernen Fremdsprachen.

„Wir hören auf die Schüler“, sagt der Minister bei der Eröffnung der Parlamentsdebatte. Aber weitere Zugeständnisse seien „nicht drin“.

„Er will, dass wir zwei statt einer Fremdsprachen lernen“, sagt im Pariser Gewühl die 18-jährige Anne-Charlotte, „aber er nimmt uns immer mehr Lehrer weg.“ Allein in dem Schuljahr, das im September beginnt, verschwinden landesweit 5.500 Lehrerstellen. Besonders betroffen sind die Vorstädte, wo die meisten Jugendlichen aufwachsen und die sozialen Probleme am größten sind. Die Mehrheit der Pariser DemonstrantInnen kennen diese Zonen Frankreichs von innen. Ihre Eltern sind EinwandererInnen. Es ist eine Demonstration des Frankreich der zweiten Generation.

Mitten drin sind RollstuhlfahrerInnen dabei. „Die Schule wird zur Ware,“ sagt Pierre, 17, der ein Literaturabitur vorbereitet, „das ist schon für andere hart genug. Für uns ist die republikanische Gleichheit noch sensibler.“ Minister Fillon will sein Gesetz bis März durchsetzen. Die SchülerInnen wollen nach ihren Ferien wieder auf die Straße gehen.