Diese Geschichten wuchern gewaltig

UNGEHEMMTE FANTASIEPRODUKTION Nur die Flucht aus der Wirklichkeit hilft weiter: Mircea Cărtărescu übersteigert die Realität und macht vor nichts halt

Trist, eng und staubig ist die Wirklichkeit. Mircea Cărtărescu schafft sie aber um

Ein eher unbedeutender Mann, er ist Ölmühlenarchitekt, setzt sich in seinen soeben erworbenen Wagen. Lange hat er gespart und noch länger gewartet auf seinen Dacia, den Renault-Klon aus rumänischer Produktion. Der Mann hat keinen Führerschein, er sitzt nur im Auto und betätigt, aus Versehen eher, die Hupe. Ihr Geräusch gefällt ihm nicht, er besorgt sich raffiniertere Hupen, eine spielt „Satisfaction“ von den Stones. Nicht genug damit. Er lässt sich eine Art Synthesizer einbauen, später konstruieren die Japaner dem Dacia-Musikanten eine gewaltige Orgel, der Mann wird weltberühmt.

Er spielt sich – immer in seinem Dacia – durch die Musikgeschichte, Mozart, Verdi, Schönberg, bis er in die Regionen des Unerhörten gelangt. Er mutiert, wird ganz spielende Hände, dehnt sich aus, wächst, wuchert am Ende hinaus ins Universum: „Im Mittelpunkt angelangt, nahmen seine spiralförmig geringelten Arme den Raum der einstigen Milchstraße ein.“

So geht, rasch nacherzählt, „Der Architekt“, die kürzeste der fantastischen Geschichten in Mircea Cărtărescus Prosaband „Nostalgia“, der im Original bereits 1993 erschien. Allerdings trifft die Beschreibung „fantastisch“ nur halb. Das Fantastische bei Cărtărescu ist nie nur Fantasy, sondern stets Resultat einer Bewegung, die im Realen ihren Ausgang nimmt. Die Bewegung ist die einer Übersteigerung aller Realitäten, die vor nichts haltmacht. Das Reale, in dem diese Wucherung zu Beginn noch verankert ist, ist in der Regel das Bukarest der Sechziger- und Siebzigerjahre, meist in der Erinnerung von Erzählern, die biografische Einzelheiten mit dem Leben des Autors teilen. In seiner großen „Orbitor“-Trilogie (auf Deutsch erschien 2007 der erste Band, „Die Wissenden“) wird Cărtărescu als emblematischen Ausgangspunkt seiner wuchernden Fantasiebewegung das Fenster des Kinderzimmers in einer Wohnung am Bukarester Boulevard Ștefan cel Mare finden. In den Erzählungen von „Nostalgia“ sind die Ankerpunkte erratischer, ebenso wie das Wuchern der Fantasie hier haltloser ist.

Cărtărescu ist kein naiver Autor. In gezielt gestreuten Verweisen, von Kafka bis Borges, von Proust bis García Márquez, spinnt er seine intertextuellen Netze und sitzt dann als selbstbewusster und selbstreflexiver Erzähler mitten darin. Auch die Poetik seines Tuns liefert er gleich mit: „Je enger der Ort der Handlung, des Spiels oder des Denkens“, heißt es in der Erzählung „REM“, „um so weiter wird der Rest der Welt, sprich: DIE WELT.“ Vom Wohnungsfenster, vom Dacia, von schmucklosen Zimmern in staubigen Stadtlandschaften nimmt Cărtărescus mythenschaffendes Erzählen stets seinen Ausgang.

Trist, eng und staubig ist die Wirklichkeit. Mit – man muss so paradox formulieren – gewaltsamer Leichtigkeit schafft Cărtărescu diese Wirklichkeit dann aber um. Die endlose Reihung des grandios Erfundenen hat dabei ihre pathologische Seite. Die Fantasieproduktion kennt kaum Grenzen, Exzess folgt auf Exzess. Was im Umschreiben der realen Erinnerung durch atemberaubende Halluzinationen zum Vorschein kommt, sind nicht in erster Linie Allegorien des Lebens in der Diktatur. Eher ist die Ambivalenz des fantastischen Überwucherns der Wirklichkeit als Ganzes die Allegorie eines Lebens, in dem nur die Wirklichkeitsflucht weiterhilft.

Und zugleich eine Sackgasse ist. Die Erzählung „Der Architekt“ ist atypisch darin, dass sie die Fantasie am Punkt ihrer gewaltigsten Ausdehnung enden lässt. In fast allen anderen Geschichten des Bandes geht die Sache anders aus. So nimmt in „Mendebilus“, der besten von ihnen, ein Nachbarsjunge im Fortgang immer unheimlichere und übermenschlichere Züge an. Abrupt jedoch endet nach allerlei Andeutungen und Aufschüben das Fantasieren. Eine faszinierende Gegenbewegung setzt ein, ein Zusammenfallen, eine Implosion, die Ernüchterung nach dem Rausch. Das Jahrzehnte später das Ganze als Kindheitserinnerung erzählende Ich zweifelt an dem, was es erinnert hat, ja leugnet es zuletzt ganz und gar.

Noch drastischer: Der Ich-Erzähler der Gender-Metamorphose-Geschichte „Die Zwillinge“ sitzt, wie sich nach und nach zeigt, gar von Anfang an in der Irrenanstalt. So oder so spiegelt sich die Wahrheit über das Leben im Rumänien der Ceaușescu-Jahre in Cărtărescus Erzählungen nie in realistischer Abschilderung. In ihrer Ambivalenz stets bewussten Erinnerungs-Operationen rettet er die Wirklichkeit vielmehr ins Pathologische einer ungehemmten Fantasieproduktion. EKKEHARD KNÖRER

Mircea Cărtărescu: „Nostalgia“. Aus dem Rumänischen von Gerhardt Csejka. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2009, 415 Seiten, 24,90 €