Wenn es um Kind oder Engel geht

„Mein Hauptwiderwille ist, dass die Kinder in gut und schlecht sortiert werden“

VON FRIEDERIKE GRÄFF

Sie haben ihn „Ulysse“ genannt. Odysseus. Weil seine Eltern einen ungewöhnlichen Namen für dieses Kind wollten, einen, der zeigt, dass es ein Kämpfer ist. „Diese Kinder überleben die Geburt meist nicht“, sagt die Frauenärztin nach der Untersuchung. „Ich muss Sie auf die rechtliche Möglichkeit eines Abbruchs aufmerksam machen.“ Wenn er sowieso stirbt, kann er so lange bleiben, hat Anja Schröter* damals gedacht. Und versucht, weiterzumachen, als sei nichts geschehen. Einfach weiter schwanger zu sein.

„Ein Überlebender“, sagt einer der Ärzte, der beim Feinultraschall in der 20. Schwangerschaftswoche zusehen darf, als Fortbildung, weil man so etwas selten sieht: ein Kind mit Tetrasomie 12p. „Viele sterben ganz früh in der Schwangerschaft“, sagt der Arzt. Zysten in den Nieren, Zwerchfellbruch, Magen und Darm steigen nach oben, schwerer Herzfehler, die Luftröhre nicht gesehen, Lunge stark angegriffen, sechs Finger und Zehen. So hat es wohl später im Obduktionsbericht gestanden. Sie kann das Kind auf dem Ultraschallbild sehen. „Er hat mit dem Arm gefuchtelt und sich umgedreht“. – „Ihr Kind ist nicht lebensfähig“, sagt der Arzt.

Auf der Rückfahrt von der Spezialpraxis sagt ihr Mann: „Ich kann so nicht weiterleben. Das geht über meine Kräfte. Ich kann nicht ausgleichen, was du Sylvie jetzt nicht geben kannst“. Sylvie, das ist ihre zweijährige Tochter, das gesunde Kind, das Anja Schröter fern gerückt ist, seit sie weiß, dass ihr zweites krank ist. Später, als alles vorbei ist, wird sie sagen, dass ihr Mann nur ausgesprochen habe, was sie nicht wahrhaben wollte. Dass sie an ihre Grenzen gestoßen seien. Sie ruft in der Klinik an. „Wann würde es Ihnen passen?“, fragt man sie. Es ist doch kein Frisörbesuch, denkt sie. Es ist eine Abtreibung. Sie ist in der 24. Woche schwanger. Die Geburt ist schwer. Es dauert zwölf Stunden, bis das Kind zur Welt kommt. Es steckt noch in der Fruchtblase. „Engelspaket nennt man das“, sagt sie. Ihr Mann nimmt das tote Kind auf den Arm. „Schau mal, es hat deine Nase“, sagt er. Es ist der Moment, in dem sie so etwas wie Frieden spüren.

Die Außenwelt findet, es war gut, das Kind abzutreiben. „Es hätte euer Leben zerstört.“ Anja Schröter will es nicht hören. „Viele Leute verstehen nicht, dass man dieses Kind liebt. Sie verstehen nicht, warum wir um das Kind trauern.“ Sie beerdigen es im Familiengrab. Sie heben die Fotos auf, die sie im Krankenhaus von Ulysse gemacht haben. „Nur etwas Gesundes ist gut genug für unsere Gesellschaft“, sagt Anja Schröter. „Ich habe Probleme damit.“

Würde sie wieder schwanger werden, ginge sie auch wieder zu den pränatalen Untersuchungen. Sie will nicht überrumpelt werden. „Aber den Tod des eigenen Kindes kann man nicht vorbereiten“, sagt sie noch.

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Seit in ihrer Klinik der neue Chefarzt angetreten ist, sind immer mehr Frauen gekommen, die eine Abtreibung machen lassen wollen. Es sind auch Frauen gekommen, die eine Spätabtreibung haben machen lassen. Unter der alten Leitung gab es kaum Schwangerschaftsabbrüche und nach der 24. Woche nur bei eindeutig nicht lebensfähigen Kindern. Schließlich haben sich neben Ulrike Winkler* immer mehr Hebammen geweigert, bei den Abtreibungen dabei zu sein, solange die Rahmenbedingungen nicht geklärt sind: Wie werden die Frauen aufgeklärt und beraten? Wer ist zuständig? Bis zu welcher Woche wird die Geburt eingeleitet? „Für das eine Kind wird in der 25. Woche alles getan, damit es überlebt, und bei dem anderen, das vielleicht nicht einmal so schrecklich krank ist, wird alles getan, damit es nicht lebt“, sagt die Hebamme. Die Schwestern fühlen sich überfordert, die Ärzte weigern sich manchmal, die wehenauslösenden Tabletten zu verabreichen. Monate sind vergangen, aber die Rahmenbedingungen für Abtreibungen sind noch nicht geklärt.

Die Indikation stellt der Humangenetiker der Klinik aus. In den Beratungen wird über mögliche Defizite des Kindes gesprochen, das vielleicht nie laufen oder nie selbstständig essen wird. „Das Kind ist noch nicht als Individuum sichtbar. Es ist klar, was das ausmacht“, sagt Ulrike Winkler. Oft geht es bei den Gesprächen darum, ob man dem Kind Leid ersparen könne. „Aber wer kann ermessen, ob es mehr leidet, wenn es in der 25. Woche drei Tage lang mit Wehenmitteln traktiert wird oder nach einer normalen Geburt nach drei Tagen an seiner Krankheit stirbt?“

Häufig sind es Kinder mit Downsyndrom. Dann wird nicht über das Leid gesprochen, weil sie als fröhlich gelten, sondern über das Gefühl, überfordert zu sein, oder über Berufspläne. Es kommen auch Mütter, deren Kinder einen offenen Rücken haben. Manche dieser Kinder sind querschnittgelähmt, andere können sich normal bewegen. Die Zeitungen schreiben meist nur über Fälle, in denen ein Kind entgegen der eigentlichen Absicht lebend zur Welt kommt.

Aber Ulrike Winkler beschäftigen die Kinder, die in der 18. Woche tot zur Welt kommen nicht weniger als diejenigen, die in der 24. Woche lebend geboren werden. Dabei ist sie niemand, die sich über die Mütter empören würde. Es geht ihr um den Entscheidungsprozess, in dem sich die Eltern für oder gegen das Kind entscheiden. „Alle sagen über die Pränataldiagnostik, es sei keine Selektion. Aber eigentlich ist sie es doch. An den genetischen Krankheiten kann sie nichts ändern, die Therapiemöglichkeiten sind minimalst.“

In der Universitätsklinik, an der sie ausgebildet wurde, hat sie einmal ein Neugeborenes in einer Pappschale in der Abstellkammer gefunden. Ein Kind, das nicht lebensfähig war, aber noch lange japste. „Es gibt keine Regeln dafür, es ist nicht vorgesehen“, sagt Ulrike Winkler. „Wir haben uns eine Technik an Land gezogen, mit der wir auf der menschlichen Ebene keinen adäquaten Umgang haben“. Sie hat das Gefühl, dass die Frauen tun, was man von ihnen erwartet. Wer 35 Jahre alt ist, geht zur Fruchtwasseruntersuchung, weil ein Kind mit Downsyndrom niemandem zuzumuten ist. Aber wenn sich die Mutter zu einer Spätabtreibung entschließt, möchte niemand davon wissen. „Mein Hauptwiderwille“, sagt Ulrike Winkler, „ist, dass die Kinder in gut und schlecht sortiert werden. Es ist schlecht für das Seelenheil einer Gesellschaft.“

„Nur etwas Gesundes ist für die Gesellschaft gut genug. Ich habe Probleme damit“

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Am Tag bevor Sandrine Weber* schwanger wurde, sagte sie zu ihrem Mann: „Ein Kind wäre schön.“ In der 14. Woche misst der Arzt die Nackenfalte des Kindes: 2,5 mm. Das ist breiter als normal. Es kann ein Hinweis auf einen Herzfehler oder auf eine Trisomie sein. Die einzige Möglichkeit für eine sichere Diagnose, so sagt man ihr, ist eine Fruchtwasserpunktierung. In den Nächten hat sie Albträume von riesigen Spritzen. „Die Freude am Ganzen war schon weg“, sagt sie. „Das war der Anfang vom Ende.“ Sie entscheidet sich mir ihrem Mann für die Fruchtwasseruntersuchung. „Wenn wir wissen, dass alles in Ordnung ist, können wir es dann genießen“, sagt er. Im Ultraschallbild sieht sie die Finger des Kindes, alles ist da. „Ich habe mich verliebt ins eigene Kind“, sagt sie. Bei der neuen Messung ist die Breite der Nackenfalte normal. Zwei Wochen später ruft die Ärztin an: „Ihr Kind hat Trisomie 18. Es ist nicht lebensfähig. Sie werden abtreiben, ich mache das nicht, Sie müssen zu Frau B.“

Sandrine Weber sagt zu ihrem Mann: „Ich kann mir einen Abbruch nicht vorstellen, ich bin schon zu verliebt in das Kind.“ „Was ist das für ein Leben für so ein Kind?“, fragt er. „Aber vielleicht leidet es nicht“, sagt sie. „Wenn das Kind so zu uns kommt, ist es unsere Aufgabe.“ Der Arzt schreibt auf ihren Überweisungsschein: „Trisomie 18. Konfliktschwangerschaft“. „Warum?“, fragt sie. „Weil Sie sich so viele Fragen stellen.“ Irgendwann sagt ihr Mann: „Ich akzeptiere deine Entscheidung, egal wie sie ausfällt.“ Sie bitten um einen Besuchstermin in einer Klinik, die die Abtreibung machen könnte. In der Klinik nimmt man an, dass sie zur Abtreibung kommen. Das Zimmer ist schon vorbereitet. Sandrine Weber trifft eine Frau, die ein Kind mit Wasserkopf geboren hat. „Ich fand es mutig, sich die Chance zu geben, das Kind lebend zu sehen, das Kind selbst sterben zu sehen.“ Sie glaubt nicht, dass sie das Gleiche kann. Sie fragt in einem Internetforum: „Wie treffe ich so eine Entscheidung?“ Sie schreibt Pro- und Contra-Listen, aber sie findet keine Entscheidung.

Eines Nachts träumt sie, dass sie das Kind zur Welt bringt. Es ist in diesem Traum mit der Spätabtreibung einverstanden. Sie entscheidet sich für den Abbruch. Sie mit dem schwangeren Bauch und ihr Mann suchen ein Grab für das Kind aus. Bei der Geburt in der 21. Woche will sie keine Betäubung, sie möchte dabei sein. Sie nennen das Kind Matthis. Die Geburtsanzeige schicken sie auch den Ärzten. Sandrine Weber fängt an, bei der Lebenshilfe mitzuarbeiten, sie organisiert Spielabende für geistig Behinderte. Die Untersuchungen vor der Geburt würde sie nicht wieder machen. „Ich will nie wieder vor so einer Nachricht stehen.“ Und sie glaubt, dass sie jetzt die Kraft hätte für ein behindertes Kind. „Es wird mein Leben nicht kaputtmachen.“

* alle Namen geändert