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: HELMUT HÖGE über Unteralterung

„Always Ultra!“

Eine Kurzreise durch Böhmen, der neulich ausgestrahlte TV-Zweiteiler über türkische Gastarbeiter und der lange Reisefilm durch Osteuropa „Wrocław-Varna-Odessa-Istanbul“ von Ulrike Ottinger bewiesen einmal mehr: Europa ist ein einziges Altersheim! Man sieht nur noch Kinder und Greise, der Rest der Bevölkerung ist irgendwo unterwegs – auf der Suche nach Arbeit.

Das gilt auch und erst recht für das nahezu deindustrialisierte Berlin, wo es weitaus mehr Senioren-Center gibt als Jugend-Clubs und -Lounges. Trotzdem warten wir hier noch immer auf den großen Altersheim-Roman. Gut, es gibt den Bestseller des FAZ-Herausgebers Schirrmacher: „Das Methusalem-Komplott“, in dem er uns unter Verweis auf seine 104 Jahre alte Großmutter damit droht, ebenfalls uralt zu werden (die Rache der Gene). Und es gibt die Altersheim-Reportage „Der Witwentröster“ von Mark Wortmann, aber die ist schon wieder eine Youngster-Publikation – von einem Zivildienstleistenden.

Daneben gibt es auch noch jede Menge Chatrooms und Infoportale über Inkontinenz, Prostataprobleme, Geschwüre am Zwölffingerdarm und Altersdiabetes. Testberichte für zukünftige Rollstuhlfahrer, Gebissträger und Gehhilfenbenutzer. Touristikunternehmen, die sich auf Seniorenreisen zu den verlorenen Ostgebieten – bis hin nach Stalingrad – spezialisiert haben.

Ins Fiktive lappen dagegen all jene lustigen Spielfilme, in denen Altersheiminsassen den Widerstand gegen ihre humorlose Heimleitung organisieren. In Wirklichkeit gibt es in diesen „Ruhesitzen“ herzlich wenig zu lachen. Ich habe mal in zwölf Westberliner Altersheimen Diavorträge gehalten. Obwohl die Lichtbilder sämtlichst aus Sammlungen von alten Leuten stammten und meine Kommentare dazu knapp und launisch gehalten waren, hörte man nur ab und zu traurige Seufzer und alle paar Minuten jemand, der sich quietschend mit seinem Rollstuhl entfernte.

Besonders deprimierend waren die Altersheime in den Arbeiterbezirken, wo die meisten Insassen schon so hinfällig waren, dass sie nur noch dämmerten – und wahrscheinlich mit Psychopharmaka noch zusätzlich ruhig gestellt wurden. Eine Ausnahme war ein Heim am Lietzensee, wo die Leitung meinen Vortrag schwachsinnigerweise als „Dias über neue Bademoden“ angekündigt hatte. Dort lebten jedoch zwei pensionierte Siemens-Justiziarinnen, die sich die ganze Zeit lebhaft mit mir über Persönlichkeitsrechte am Bild stritten.

In einem Wilmersdorfer „Ruhesitz“ wiederum ergötzten sich einige schon leicht angeschickerte Rentner derart an den Dias, dass sie laufend Kommentare wie „Ohohoh!“, „Eine scharfe Alte!“ und „Der möchte ich mal im Park begegnen!“ abgaben – bis der diensthabende Oberpfleger sie des Speisesaals verwies.

Später traf ich sie in einer Seitenstraße an einem Imbiss, wo sie mir u. a. erzählten, dass es in der Gegend um den Heidelberger Platz ein seltsames Phänomen gäbe: Fast alle relativ gut situierten Ehepaare hätten sich dort scheiden lassen, als ihre Kinder aus dem Gröbsten heraus waren. Die Männer seien dann ausgezogen – in Wohnungen auf der jeweils anderen Straßenseite, woraufhin sich die ehemaligen Ehepartner für den Rest ihres Lebens durch die Gardinen beobachten würden. Das hätte zur Folge, dass sie ihre neuen Liebschaften heimlich durch den Hintereingang empfingen und während des Beisammenseins peinlich darauf achteten, kein Licht zu machen. Überhaupt sei dort Diskretion Pflicht, weswegen es immer so aussähe, als gäbe es nur aufdringliche Jugendliche – in diesem No-problem-Bezirk.