Die Schoah-Erben kommen ins Grübeln

Im für Gedenkdiskurse besonders sensiblen Jahr 2005 meldet sich die dritte Nachkriegsgeneration zu Wort. Eine Gruppe junger Intellektueller fordert im Umgang mit dem Holocaust ein Umdenken weg von der Moralkeule

Beim Besuch einer Familie in China vor zwei Jahren wurde die Politologin Sonja Regler gefragt, zu welcher Rasse sie denn gehöre. Zu den Juden oder zur Rasse der Arier? Geduldig versuchte die 28-Jährige zu erklären, dass es weder eine jüdische noch eine arische Rasse gibt. Nicht zum ersten Mal wünschte sich die Berlinerin in diesem Moment, aus einem anderen Land zu kommen als aus Deutschland. Einem Land, wegen dem sie sich nicht für Auschwitz rechtfertigen muss.

Im Dauergedenkjahr 2005 wird viel über den Holocaust diskutiert. Aber anders als in vergangenen Gedenkjahren melden sich zunehmend junge Menschen zu Wort, die den Nationalsozialismus nur noch aus Erzählungen der Großeltern kennen. Eine Generation, die realisiert, dass sie die verbleibenden Jahre nutzen muss, wenn sie mit Zeitzeugen noch ins Gespräch kommen möchte.

Zu dieser dritten Nachkriegsgeneration gehört auch Sonja Regler. Zusammen mit 15 anderen WissenschaftlerInnen, JournalistInnen und PädagogInnen hat sie das Projekt „60 Jahre danach“ gegründet, um über spezifisch auf ihre Generation zugeschnittene Gedenkformen zu diskutieren – falls es die gibt.

Die Idee entstand auf einer deutsch-israelischen Fachtagung vergangenen Herbst in der Gedenkstätte Ravensbrück. Einige der Teilnehmer stellten fest, dass es erstaunlich viele Gemeinsamkeiten zwischen dem Opferdiskurs in Israel und dem Schulddiskurs in Deutschland gibt. Unterstützt von der Holocaust-Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ treffen sich seitdem alle zwei Wochen jeweils 15 Menschen – eine Gruppe in Tel Aviv, die andere in Berlin. Alle sind im Alter um die 30. Am Mittwochabend stellte die Berliner Gruppe im Deutschen Historischen Museum ihr Projekt vor.

Dabei ging es etwa um die häufig aufgeworfene Frage, „müssen wir uns heute noch schuldig fühlen?“ – so hatte etwa das Magazin Stern anlässlich des 60. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz getitelt. Die Frage sei jedoch völlig falsch gestellt, findet Phil Langer. Klar würde sich niemand aus seiner Generation für die Verbrechen des Nationalsozialismus verantwortlich fühlen. Die Begriffe der „objektiven Schuld“ und dem „subjektiv empfundenem Schuldgefühl“ würden durcheinander geraten, sagt Langer.

Vielmehr geht es den jungen Leuten in diesem Projekt um Fragen wie: Wie sehr ist die dritte Nachkriegsgeneration vom Holocaust geprägt? Welche neuen Formen des Gedenkens müssen entstehen? Wo beginnt Normalisierung? Was heißt Verantwortung? Johannes Schwarz, Museumspädagoge, spricht von „fehlgeleiteter Holocaust-Pädagogik“, wenn „übereifrige Pädagogen“ verzweifelt versuchen, ihre Schützlinge fürs Thema zu motivieren, und dann als letzte Mittel die „Moralkeule der Schoah“ hervorziehen. Sein Plädoyer: „Weg vom Zwang, hin zur freiwilligen Spurensuche in die Vergangenheit.“ Im April wollen sich beide Gruppen in Jerusalem treffen. Dann wird sich herausstellen, ob sich die Diskurse der Holocaust-Erben tatsächlich so ähneln.

FELIX LEE