piwik no script img

„Hätte ich nur schon Nachricht...“

Feldpostbriefe waren auch für Kölner Soldaten eine wichtige Stütze im Krieg und stärkten ihr „Durchhaltevermögen“. taz-Serie Teil II: Kölner an der Front

VON KAROLA FINGS

„Ich habe die Hoffnung, dass wir diesen Krieg gewinnen, noch nicht aufgegeben, aber ich bin dieses Leben als Soldat so leid, dass ich mich immer wieder mit allen Kräften aufraffen muss.“ Wer das literarische Werk Heinrich Bölls kennt, den mag dessen am 18. Juli 1944 zum Ausdruck gebrachte Hoffnung auf einen zu dieser Zeit mehr als realitätsfernen Sieg des Deutschen Reiches befremden. Doch Böll, der seit 1938 in der Uniform steckte, erst im Reichsarbeitsdienst, dann als Infanterist der Wehrmacht, ist mit seiner damaligen Einstellung zum Krieg durchaus typisch für die Kölner Soldaten: Man ist das Elend des Landserlebens zwar leid und wünscht sich nichts sehnlicher als den Frieden, doch der kann nur als Sieg von Deutschland imaginiert werden.

Spricht oder schreibt man in Köln über den Zweiten Weltkrieg, so bezieht man sich fast ausschließlich auf das, was sich in der Stadt ereignete. Aus dieser Perspektive wird das Bild beinahe zwangsläufig von der Zerstörung der Stadt durch die Bombenangriffe und von den Leiden der Zivilbevölkerung dominiert. Die Lebensrealität der Jahre 1939 bis 1945 bedeutete aber auch eine nie zuvor da gewesene Mobilität der Bevölkerung: Bei Kriegsende befanden sich nur noch 40.000 von ehemals rund 770.000 Menschen in der Stadt. Frauen und Kinder waren längst in weniger „luftgefährdete“ Gebiete evakuiert und männliche Jugendliche und ältere Männer am Westwall oder beim „Volkssturm“ eingesetzt; nicht zu vergessen diejenigen, die in die Emigration gezwungen oder in Lager verschleppt wurden.

Die mutmaßlich mobilste und größte Gruppe, die der Kölner Soldaten, ist bis heute ein „blinder Fleck“ in der Stadtgeschichtsschreibung. Dabei hat eine erste Auswertung des Materials, das mehr als 300 Kölnerinnen und Kölner dem NS-Dokumentationszentrum für die Ausstellung „Zwischen den Fronten. Kölner Kriegserfahrungen 1939-1945“ zur Verfügung gestellt haben, gezeigt, dass die Geschichte der Kriegsjahre ohne diese andere Hälfte des Krieges schlechterdings nicht zu verstehen ist. Ein wesentlicher Aspekt, der bei Kriegsbeginn für ausnahmslos alle Familien immer wichtiger wurde, war die Organisation des sozialen Zusammenhalts. Die Kontakte zu den Angehörigen wurden während der kurzen Heimaturlaube gepflegt, weit mehr jedoch über die schriftliche Kommunikation.

Von den rund vierzig Milliarden Feldpostbriefen, die während des Krieges transportiert wurden, sind sicherlich einige Millionen von Kölnerinnen und Kölnern geschrieben worden. Allein von Heinrich Böll liegen 878 edierte Briefe vor. Diese private Korrespondenz, die aufgrund der bestehenden Feldpostkontrolle oft einer Selbstzensur unterlag und deshalb kritisch ausgewertet werden muss, gibt uns heute trotz dieser Einschränkung Auskunft über die Innenansicht des Krieges. Vor allem zeigt sie, wie bedeutsam die Wechselwirkungen zwischen Front und Heimatfront waren, und die in den Briefen gespiegelte private Realität hilft zu verstehen, warum dieser Krieg nur mit dem vollständigen „Zusammenbruch“ enden konnte.

Für die Soldaten war der briefliche Kontakt zur Heimat eine wichtige psychologische Stütze für das „Durchhalten“ an der Front, deren Bedeutung, wagt man eine Generalisierung für die Masse der Soldaten, vielleicht sogar noch vor ideologischen Motiven oder dem Korpsgeist und Gruppendruck in der Armee anzusiedeln ist. „Noch zwei Stunden, dann kommt die Post, die heute am Sonntag etwas früher kommt“, schreibt Heinrich Böll am 8. August 1943. „Immer mehr, immer mehr wird es mir bewusst, dass ich eigentlich immer nur auf diese Stunde warte, dass ich tatsächlich davon lebe...“

Die Ankunft eines Briefes war nicht nur ein wichtiges Band zum früheren zivilen Leben, sondern zeigte darüber hinaus, dass der oder die Schreibende zumindest bis zu diesem Tag noch lebte. Aber auch bei den Frauen, die als Ehefrauen, Freundinnen, Mütter, Töchter oder Schwestern die Zentren der Kommunikation mit den Angehörigen bildeten, traten Alltagsprobleme wie auch alles Politische hinter dieser einzigen Sorge zurück: „Wenn ich doch nur schon eine Nachricht von Dir hätte!“, schreibt Rosalie S. am 5. August 1943 an die Front, und Anna S. schreibt am 4. Dezember 1939 an ihren Sohn: „Deine Briefe allein sind meine Freude.“

Die stabilisierende Wirkung der Feldpost war den politischen Entscheidungsträgern durchaus bewusst: Dies belegen die nicht wenigen Fälle von öffentlich bekannt gemachten Hinrichtungen von Kölnerinnen und Kölnern, die des Diebstahls von Feldpost bezichtigt wurden. Diese Diebstähle verweisen auf eine zweite Beziehungsgeschichte zwischen Front und Heimatfront: die der Versorgung. Nicht nur Bargeld, sondern vor allem Tonnen von Waren wurden als Feldpostpäckchen hin- und hergeschickt. Lachs kam aus Norwegen, Kaviar und Zigarren aus Frankreich, aus Köln wurden selbst gebackener Kuchen, Wollsocken, Zigaretten und Kerzen geschickt.

Ein weiterer Beziehungsaspekt ist die gegenseitige Ermutigung und nicht zuletzt auch ideologische Selbstvergewisserung in einem Krieg, der eine Ungleichzeitigkeit von Schrecken hervorbrachte. So berichtete die bereits zitierte Anna S. am 14. Oktober 1941 von einem Bombenangriff auf Köln: „Sie waren wieder in Köln. Zuletzt haben sie Kanister mit Phosphor abgeworfen. Morgen werden die Opfer des letzten Angriffs beerdigt, aus einer Familie drei Kinder...“, woraufhin der Sohn antwortet: „In Russland ist bald Schluss mit dem gewaltigen Ringen. Dann bekommt der Tommy sein Teil. Wir Soldaten sind stolz auf unsere tapfere, opferbereite Heimat.“

Während die Zerstörung der Heimat bei dem einen zu einer weiteren Fanatisierung führte, rief sie bei dem anderen völlige Mutlosigkeit hervor. Wilhelm M., als Soldat an der Belagerung Leningrads beteiligt und dort gestorben, notierte am 12. Juli 1943 in sein Tagebuch: „Mit der Post bekam ich 2 Briefe, einen von Werner und einen von zu Hause, d.h. nicht mehr von zu Hause, sondern von Bergneustadt, wo meine Angehörigen jetzt sind. Wir sind, wie ich vermutet habe und jetzt Gewissheit habe, total bombengeschädigt. Nichts mehr wurde gerettet als das nackte Leben. Doch Gott sei Dank sind wenigstens meine Angehörigen noch am Leben. Nun ist alles fort, nichts mehr vorhanden. Wofür kämpft man nun noch?“

Bei aller Verschiedenheit des Kriegserlebens an Front und Heimatfront zeigt sich ein gemeinsamer Wendepunkt: Die Kapitulation der VI. Armee bei Stalingrad. Der Kriegsverlauf wird skeptischer eingeschätzt, das Suchen nach letzten Rückzugsräumen beginnt. Überhaupt ist bei dichter Überlieferung von Briefen gerade der dann zu erkennende Wandel von Einstellungen interessant.

Heinrich Böll, der die meiste Zeit des Krieges im Westen eingesetzt war, kam während seines vierwöchigen Fronteinsatzes auf der Krim im November 1943 zu dem Schluss, dass der Krieg „grausam und schrecklich, wirklich höllisch“ sei, denn dort erlebte er dessen „wahres Gesicht“. Im Mai 1944 bezeichnete er sich als „absoluter Anti-Militarist“ und verstärkte seine Bemühungen, sich durch Lazarettaufenthalte dem Krieg zu entziehen. Doch trotz seines nun abgrundtiefen Hasses auf das Soldatendasein klammerte er sich an einen Siegfrieden, der sich nur aus der durchaus üblichen mentalen Trennung zwischen dem „guten Deutschland“ und dessen „schlechten Führern“ erklären lässt.

Trotz des Detailreichtums der brieflichen Zeugnisse bleiben sowohl bei Böll als auch bei allen anderen Briefschreibern bis auf ganz seltene Ausnahmen wesentliche Kriegsgeschehnisse unerwähnt. Weder für das elende Massensterben in den eigenen Reihen noch für die grausamen Massenverbrechen an der Front finden sie eine Ausdrucksmöglichkeit. Der Holocaust bleibt gänzlich ausgespart. So wird zwar vieles wortreich erhellt, doch die Zentren des nationalsozialistischen Eroberungs- und Vernichtungskrieges bleiben im Dunkeln.

Böll ist insofern ein typischer Kölner, als er bis Kriegsende buchstäblich bei der Fahne blieb. Untypisch hingegen sind seine Anstrengungen, mit seinen Kriegserfahrungen ins Reine zu kommen. Hier ist James H. Reid zuzustimmen, der Bölls Gesamtwerk als „Erinnerungsarbeit“ bezeichnete und dessen Nachkriegsengagement beispielsweise gegen die Wiederbewaffnung eine Nachholung des „unterlassenen Widerstandes“ nannte.

Die Autorin ist stellvertretende Direktorin des NS-Dokumentationszentrums und hat die ab dem 8. März 2005 im EL-DE-HAUS zu sehende Sonderausstellung „Zwischen den Fronten. Kölner Kriegserfahrungen 1939-1945“ konzipiert. Die Ausstellung geht bis zum 20. November 2005.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen