Handel mit Gerechtigkeit

Geständnis auf der einen Seite, Straferlass auf der anderen: Immer häufiger wird das Ergebnis eines Prozesses außerhalb des Gerichtssaales ausgehandelt. „Höchst bedenklich“, warnen Kritiker

Von ELKE SPANNER

Es gibt Gerichtsverfahren, bei denen werden die Akten in Umzugskartons hereingeschleppt. In Fällen der Wirtschaftskriminalität beispielsweise sollen oft hunderte Bankbelege Aufschluss geben über illegale Geldtransfers. Daneben abgeheftet sind Abschriften abgehörter Telefongespräche, Protokolle polizeilicher Vernehmungen und Gutachten, die Sachverständige zu den Akten gereicht haben. Sich durch diese durchzuarbeiten ist zwar die ureigene Aufgabe von Gericht, Staatsanwalt und Verteidiger – aber dennoch manchmal eine Last. Deshalb bleiben die Kartons immer öfter zu.

Vor Gericht hat sich eine Praxis entwickelt, die von ihren Kritikern als „Handel mit der Gerechtigkeit“ gescholten wird: Die Prozessbeteiligten einigen sich auf ein Geständnis des Angeklagten auf der einen und Strafmilderung durch das Gericht auf der anderen Seite, ehe sie den Prozesssaal überhaupt betreten haben. So weiß beispielsweise Hartmut Viktor M., der den Shell-Konzern erpresst haben soll, schon jetzt, dass er am kommenden Mittwoch bei Geständnis zu einer Höchststrafe von vier Jahren Haft verurteilt wird.

Ein solcher Deal ist nicht in allen Verfahren möglich. Ist jemand wegen Mordes angeklagt, gibt es im Ergebnis nur Freispruch oder lebenslange Haft. Dennoch wird bereits so häufig in den Hinterzimmern ein Fall ausgehandelt, dass der Vorsitzende der „Hamburger Arbeitsgemeinschaft für Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger“, Wolf-Dieter Reinhard, bereits von einer „Deal-Inflation“ spricht: In fast jedem zweiten Verfahren vor dem Landgericht, so seine Schätzung, lädt die Kammer die Verteidiger vor Prozessbeginn zu Tee und Sondierungsgespräch ein.

Laut Gerhard Schaberg, Vorsitzender einer Schwurgerichtskammer und stellvertretender Vorsitzender des Hamburgischen Richtervereins, geht es bei den Vorabgesprächen nicht in erster Linie um Arbeitsersparnis: „Ein Deal ist auch wichtig für den Opferschutz.“ Räumt der Täter seine Tat ein, erspart er seinem Opfer, ihm vor Gericht gegenüberzusitzen und das Erlebte noch einmal schildern zu müssen. Selbst in Betrugsfällen, in denen niemand einen körperlichen oder seelischen Schaden davongetragen hat, sei ein „kurzer Prozess“ für die Geschädigten eine Erleichterung: Je schneller ein Angeklagter verurteilt wird, desto schneller kommen die Gläubiger wieder an ihr Geld.

Strafverteidiger Reinhard hält die Deals dennoch für „höchst bedenklich“. Die Gerichte, sagt er, arbeiten dabei mit einem Drohpotenzial, dem nicht alle Verteidiger standhalten können. So werde den Anwälten im Vorgespräch nicht nur eine abgemilderte Strafe für den Fall eines Geständnisses in Aussicht gestellt – sondern auch mit auf den Weg gegeben, womit ihr Mandant zu rechnen hat, sollte er auf seiner Unschuld beharren. Das schürt Angst, und nicht jeder Verteidiger finde Mut, trotzdem noch in den Ring zu steigen. Dabei habe eine Studie des Münchner Professors Bernd Schünemann ergeben, so Reinhard, dass das Urteil für die Angeklagten nach einer streitigen Verteidigung in der Regel günstiger ausfällt.

Dass die angekündigte Strafe oftmals überzogen sei, erkenne ein Verteidiger zudem nur, wenn er schon bei dem Sondierungsgespräch die Akten gründlich gelesen habe und gut vorbereitet sei, sagt Reinhard. Manche Kollegen gäben indes der Versuchung nach, „schnelles Geld für wenig Arbeit“ zu verdienen.

Laut Schaberg hingegen gehen die Verteidiger kein Risiko ein, wenn sie sich mit dem Gericht zum Vorgespräch treffen. Wenn das scheitere, werde normal verhandelt, und dann sei für den Angeklagten auch noch ein Freispruch drin: „Ein Angeklagter gilt als unschuldig, solange er nicht rechtskräftig verurteilt ist.“

Wirksam wird die Vereinbarung ohnehin erst, nachdem sie im Prozess öffentlich dargelegt wurde. Auch Opfer, Nebenkläger und nicht zuletzt die Schöffen müssen davon erfahren – die schließlich mit dem Berufsrichter zusammen das Urteil verantworten, an dessen Entstehung sie nicht beteiligt waren. Dass sie nun das Prozessergebnis zusammen mit dem Tatvorwurf erfahren, ist für Sabine T., vier Jahre Laienrichterin in einer Jugendkammer, aber kein Problem: Sie vertraut darauf, dass die Meinung der Schöffen zum Strafmaß den Deal noch platzen lassen kann.