„Alle Parteien meiden das Thema Arbeitslosigkeit“

Im Wahlkampf ging es vor allem um das Thema Bildung. Das ist vorgeschoben, meint der Politologe Michael Th. Greven. Denn den Schlüssel zu mehr Beschäftigung hat keiner

taz: Herr Greven, schafft die NPD den Einzug in den Kieler Landtag?

Michael Th. Greven: Eine sichere Prognose gibt es nicht, die Umfragen basieren auf zu kleinen Gruppen. Wenn nur fünf Leute nicht zugeben, dass sie die NPD wählen, haben wir bereits eine Verzerrung. Wenn einige Faktoren zusammenkommen – etwa die Zusammenarbeit mit der DVU und in der Szene bekannte Personen –, steht zu befürchten, dass sich das zugunsten der Rechten auswirkt.

Würde sich Schleswig-Holstein damit als braunstes Land des Westens profilieren – oder ist das ein Warnsignal an alle?

Eine rechte Grundtendenz von 10 bis 15 Prozent potenzieller Wähler haben wir bundesweit. Die Frage ist, ob es Faktoren gibt, die diese Gruppen mobilisieren. Dazu zählt das Ergebnis in Sachsen: Nichts motiviert so wie der Erfolg.

So oder so wird es wohl knapp. Der SSW, die Partei der dänischen Minderheit, könnte Zünglein an der Waage werden: Er würde dann eine Minderheitsregierung tolerieren. Halten Sie das für wahrscheinlich?

Ja, ich denke, der SSW würde die größere Partei stützen. Hinter der Idee der Tolerierung steht ein demokratietheoretischer Ansatz: Es soll eine Regierung zustande kommen. Obwohl der SSW eher linksliberal ist, hätte er ein Problem, die SPD als kleinere Partei zu stützen. Falls die CDU stärker ist, müsste er mit ihr gehen, trotz inhaltlicher Unterschiede. Anders sähe das bei einer Koalition aus.

Minderheitsregierungen sind bei uns – anders als in Skandinavien – selten. Liegt das an der deutschen Mentalität?

Nein, das liegt am Vielparteiensystem und der entsprechenden politischen Kultur: Wenn es zu schwierig wird, Koalitionen zu schließen, kommt es zu dieser Variante. Würde das in Kiel passieren, wird das unter den Journalisten ein bisschen Aufregung geben. Aber das Modell könnte funktionieren.

In diesem Wahlkampf spielte das Thema Schule eine große Rolle. Meinen Sie, das ist wichtig für die Wahlentscheidung jedes Einzelnen?

Eigentlich wäre es logisch, wenn es in jedem Landtagswahlkampf um Bildung ginge – schließlich ist das eines der Hauptfelder in der Verantwortung der Länder. Aber normalerweise sind Landeswahlen von den Strategien der Bundesparteien überlagert. Es hat Wahlen gegeben, etwa in Hessen Anfang der 70er-Jahre, in denen das Schulthema die ausschlaggebende Rolle spielte. Im Fall Schleswig-Holstein scheint es mir ein Ersatzthema zu sein: Es nimmt doch Frau Simonis keiner ab, dass sie jetzt die Gymnasien abschaffen will – sie hätte jahrelang Zeit dazu gehabt. Nein, heute spricht auch die CDU über Schule, weil sie so Allgemeinplätze loswerden kann und nicht über die real sieben Millionen Arbeitslosen sprechen muss.

Wenn Rot-Grün mit dem Bildungsthema punktet – wird sich das auf die Bundesparteien auswirken?

Das Thema könnte zu einer Polarisierung im Bundestagswahlkampf 2006 führen. Für die Grünen ist die gemeinsame Schule bis zur neunten Klasse eine programmatische Position. Wobei die Frage ist, ob das ihre Wähler mitmachen – sie sind es schließlich, die ihre Kinder mehrheitlich ins Gymnasium schicken; da würde ich mir jederzeit zutrauen, das empirisch zu belegen. Die SPD wird sich nicht festlegen, die CDU erbitterten Widerstand leisten.

Die großen Bundesthemen sind zurzeit Hartz IV und die Arbeitslosenzahlen. Wie wirkt sich das auf die Schleswig-Holstein-Wahl aus?

Medien, auch die taz, hatten einen heißen Jahresanfang prophezeit. So ist es bisher nicht gekommen. Zurzeit schleichen alle Parteien vorsichtig um die Arbeitslosenproblematik herum, aus der Erkenntnis heraus, dass sie alle nicht wissen, wie sie es besser machen könnten. Allerdings trägt genau das zur allgemeinen Frustration über Politik bei. Bei der Wahl in NRW im Mai könnten Hartz IV und eine dort stärker vorhandene Protestwählerszene die SPD ein paar Prozentpunkte und damit die Regierung kosten.

Die rot-grüne Landesregierung kann keine überragende Bilanz vorweisen – hohe Arbeitslosigkeit, Schulden …

… Moment! Das Wirtschaftswachstum Schleswig-Holsteins war im Jahr 2004 besser als das von Bayern. Und glauben Sie wirklich, dass die Landesregierung etwas für die Arbeitslosigkeit kann?

Gut, anders gefragt: Die gefühlte Bilanz der Regierung ist nicht die beste. Dennoch würden die Schleswig-Holsteiner bei einer Direktwahl Heide Simonis ihrem Gegner Peter-Harry Carstensen vorziehen. Was sagt uns das?

Das sagt etwas über die politische Kultur, die Personen über Programme stellt. Neu ist das allerdings nicht: Schon Adenauer wurde als Person gewählt. Und die Personalisierung der Politik schreitet voran. Die SPD macht es also vordergründig richtig mit dem personenbezogenen Wahlkampf. Dass die Meinungen über die Partei und über die Person so auseinander klaffen, ist eigentlich schwer zu verstehen. Oder vielleicht auch nicht: Man muss sich klar machen, was für ein Durcheinander in den Köpfen der meisten Wähler und Wählerinnen herrscht.

INTERVIEW: ESTHER GEISSLINGER