„Ja, wo sind wir denn?“

INTERVIEW BETTINA GAUS
UND LUKAS WALLRAFF

taz: Frau Roth, haben die Grünen, seit der Visa-Untersuchungsausschuss eingesetzt wurde, alles richtig gemacht?

Claudia Roth: Wir haben die Dynamik dieser Auseinandersetzung anfangs unterschätzt. Ich habe gedacht, dass die absurde Unterstellung, dass Joschka Fischer oder die Grünen allgemein Beihilfe zu Menschenhandel, Schleuserei, Zwangsprostitution geleistet haben, nicht verfängt. Deshalb waren wir zunächst nicht offensiv genug.

Der Vorwurf gegen Fischer ist nicht Beihilfe, sondern Fahrlässigkeit.

Es war Peter Müller, der saarländische Ministerpräsident, der von Beihilfe geredet hat.

Der Kernvorwurf, den Sie bisher nicht ausräumen konnten, lautet, dass unter Rot-Grün das Geschäft von Schleusern erleichtert wurde, die unter anderem Zwangsprostituierte nach Deutschland bringen.

Wir müssen die Dinge bitte auseinander halten. Es geht jetzt um die Aufklärung von Missbrauchsfällen beim Reiseschutzpass-Verfahren, die es ohne Zweifel gab und die zu bedauern sind, vor allem in der Ukraine. Damit wird sich der Untersuchungsausschuss befassen. Wie ist es dazu gekommen, ist rechtzeitig reagiert worden? Aber das hat nichts mit dem Erlass zu tun, der besagte, nach einem mehrstufigen Prüfverfahren solle im Zweifel für die Reisefreiheit entschieden werden. Wenn der so genannte Volmer-Erlass zu dem Missbrauch in Kiew geführt hätte, dann frage ich mich, warum das dann nicht an 185 anderen deutschen Botschaften und Konsulaten auf dieser Welt genauso war und warum es heute noch kistenweise Beschwerden gibt über restriktive Visumserteilungspraxis, zum Beispiel in der Türkei. Im Jahr 2000 wurde der Erlass übrigens von vielen Organisationen kritisiert, die von den Grünen mehr erwartet hatten und denen er nicht weit genug ging.

Können Sie dennoch verstehen, dass es eine Irritation auslöst, wenn die frühere Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung und Grünen-Chefin Claudia Roth beim Stichwort möglicher Erleichterung von Zwangsprostitution spontan nur „Kampagne!“ ruft und nicht zuerst sagt, das wäre entsetzlich, wenn es so wäre?

Das ist eine Kampagne. Eine liberale Visumspolitik führt nicht notwendigerweise zu mehr krimineller Energie und nicht notwendigerweise zu Missbrauch oder Zwangsprostitution. Zwangsprostitution ist wirklich sehr, sehr schlimm, aber da müssen gerade wir uns von niemand vorwerfen lassen, dass wir uns mit diesem Thema nicht auseinander setzen. Wir machen seit Jahren Vorschläge im Hinblick auf Bleiberechtsregelungen und Zeugenschutzprogramme. Die haben ausgerechnet jene immer blockiert, die jetzt mit dem Finger auf uns zeigen. Es gibt Fälle von Zwangsprostitution, und da will ich keinen einzigen herunterspielen, keinen einzigen. Aber durch das, was in Kiew passiert ist, gab es kein Anwachsen der Zahlen von Zwangsprostituierten aus der Ukraine hier bei uns. Das zeigt die Kriminalitätsstatistik. Jeder Fall ist einer zu viel. Die Union tut jetzt so, als ob es eigentlich am besten wäre, wir machten die Schotten dicht, und als sei eine liberale Einwanderungspolitik gefährlich. In dieser Debatte werden wir gegenhalten.

Glauben Sie, dass es den Grünen in dieser Debatte noch abgenommen wird, dass sie eine verantwortbare Balance finden zwischen Reisefreiheit und Sicherheit, nachdem Sie den Visa-Missbrauch zunächst heruntergespielt und alle Vorwürfe mit Klagen über eine verleumderische Kampagne gekontert haben?

Ich habe nicht den Eindruck, dass es der Union um differenzierte Aufklärung von Missbrauchsfällen geht. Stattdessen stand für sie schon bevor der Ausschuss seine Arbeit aufnahm fest, dass ein Rücktritt zu fordern ist. Was ist denn das anderes als eine Kampagne?

Rücktrittsforderungen gehören zum politischen Alltag. Ihr Hauptproblem ist doch, dass inzwischen gar kein Zweifel mehr daran besteht, dass zu spät auf Warnungen reagiert wurde. Das Auswärtige Amt hat selbst festgestellt, dass es über viele Monate zum Missbrauch durch Menschenhändler und Schleuser kam.

Ja, aber wie es dazu kam, wird der Ausschuss zu klären haben. Ich will das, worum es geht, nicht bagatellisieren, aber ich will es auf die sachliche Ebene zurückbringen. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte, die belegen, dass infolge der Visaregelungen hunderttausende von Kriminellen nach Deutschland gekommen sind. Und wir reden über die Vergangenheit. Die notwendigen Konsequenzen sind längst gezogen worden.

Können Sie verstehen, dass der Eindruck entstand, die Grünen nehmen die Probleme locker, wenn etwa Jürgen Trittin angesichts vieler wartender Presseleute vor dem Parteibüro witzelt, hier sehe es ja aus wie vor der Kiewer Botschaft, und die Grünen sich auch sonst erstaunlich heiter zeigen?

Manche Witze sind gut, manche sind nicht so gut. Man kann nun aber Jürgen Trittin wirklich nicht unterstellen, dass er irgendetwas bagatellisieren will. Genauso wenig wie mir. Man muss aber doch auch sehen, wie auf der anderen Seite in der Zwischenzeit der Eindruck erweckt wird, jeder Ukrainer, der nach Deutschland gereist ist, sei kriminell und jede Ukrainerin eine Prostituierte. Ja, wo sind wir denn?

Das fragen wir Sie. Sie sprechen immer noch von einer Kampagne, obwohl die Kritik längst von allen Seiten kommt.

Ich denke, man muss sich schon klar machen, dass hinter mancher Äußerung und Berichterstattung auch ein machtpolitisches Interesse steht. Es geht um wichtige Wahlauseinandersetzungen, da überlegen sich einige: Wo kann man die Grünen treffen, wie man kann man ihre Glaubwürdigkeit erschüttern?

Fischer hat zu den Vorwürfen lange geschwiegen. Finden Sie, dass sich der Außenminister klug verhalten hat?

Ich habe ihm zugeraten, sich nicht von Südostasien aus in eine innenpolitische Diskussion einzuschalten. Ich fand es angesichts der Entwicklung richtig, dass er direkt nach der Rückkehr Stellung bezog. Joschka Fischer wird vor dem Untersuchungsausschuss selbstverständlich alle offenen Fragen beantworten.

Fanden Sie auch inhaltlich richtig, was er sich bisher geäußert hat?

Ich finde, es war richtig, dass er gesagt hat, er trage die Verantwortung, falls Fehler gemacht worden seien, und dass er zum frühestmöglichen Zeitpunkt im Untersuchungsausschuss aussagen möchte.

Was ausgerechnet Rot-Grün dann prompt verhindert hat.

Moment mal! Der CDU-Obmann Eckart von Klaeden hat doch zunächst selbst gesagt, es wäre sinnvoll, Fischer erst 2006 zu hören. Die Verfahrenslogik im Untersuchungsausschuss ist nun mal eine juristische, also erst Aktenstudium, dann Zeugenanhörung. Das ist juristisch logisch, auch wenn ich es politisch bedaure. Aber es steht mir nicht zu, in die Hoheit des Ausschusses bezüglich seiner Arbeitsabfolge einzugreifen.

War es angemessen, dass Fischer in seiner ersten Stellungnahme nur von möglichen Fehlern und Versäumnissen seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sprach?

Der Außenminister will Verantwortung nicht auf andere abschieben. Wer ihn kennt, weiß, dass er für Fehler geradestehen wird.

Und bis dahin? Wie wollen Sie als grüne Partei politisch wieder aus der Defensive herauskommen?

Indem wir versuchen, das Richtige und Notwendige immer wieder in die gesellschaftliche Debatte einzubringen. Wir dürfen uns jetzt nicht wegducken. Wir haben die Aufgabe, dieses Land als modernes Einwanderungsland zu gestalten. Wir Grüne müssen uns nicht vorwerfen lassen, dass wir Sicherheitsaspekte vernachlässigen. Dass wir das nicht tun, haben wir nach dem 11. September gezeigt. Eine liberale Einwanderungspolitik liegt aber auch im Interesse der Wirtschaft und der Wissenschaft, und dafür werden wir Grüne auch in Zukunft weiter streiten.

Im Moment scheint Ihnen der Mut dafür zu fehlen. Innenminister Otto Schily hat vor über einer Woche angekündigt, nach Afrika zu reisen, um sich für die Einrichtung von Asyllagern einzusetzen. Von den Grünen haben wir dazu nichts dazu gehört. Vor einem halben Jahr haben Sie noch laut und in Pressemitteilungen protestiert.

Es hat sich nichts verändert an unserer Position. Wir sind dagegen, den Flüchtlingsschutz aus der Europäischen Union auszulagern. Es wird mit uns keine Regelungen geben, die der Genfer Konvention widersprechen.

Das heißt, Sie werden gegen Schilys Pläne weiter entschiedenen Widerstand leisten?

Ich halte nichts von der Einrichtung von Lagern, die verhindern sollen, dass Menschen überhaupt hierher kommen können.

Frau Roth, finden Sie, dass nach den Vorwürfen gegen Ihren außenpolitischer Sprecher Ludger Volmer wegen dessen Nebenjob Ihr Krisenmanagement gut funktioniert hat?

Ich finde, es war richtig, sich erst einmal genau anzuschauen, ob Ludger Volmer gegen geltende Regeln verstoßen hat. Das hat er nach allem, was wir wissen, nicht. Im Gegenteil, er hat sogar mehr getan, als er hätte tun müssen, weil er Einkünfte angab, die unter der Meldeschwelle liegen.

Warum ist er dann zurückgetreten?

Er wollte nicht dazu beitragen, dass die Vermischung in der Öffentlichkeit von Volmers Tätigkeit und Volmer-Erlass in Wahlkämpfen vor allem seinen Landesverband in NRW schädigt.

Wir stellen also fest: Den Grünen genügt es, wenn ihre Abgeordneten Regeln formal korrekt einhalten.

Wir sind insgesamt dafür, weitergehende Offenlegungspflichten für Abgeordnete einzuführen. Bei Ludger Volmer ging es darum, ob er die geltenden Regeln eingehalten hat …

und um die Frage, ob er sein Mandat für private Geschäfte genutzt hat.

Nach allem, was wir wissen, war das nicht der Fall.

Für Sie ist es in Ordnung, wenn ein außenpolitischer Sprecher mit ausländischen Regierungen, mit denen er politisch zu tun hat, auch über Geschäfte verhandelt und dafür Geld bekommt?

Das, was ich von Ludger weiß, ist, er hat das auseinander gehalten.

Sie sind also nach wie vor der Meinung, dass er sein Mandat nicht mit Geschäftsinteressen vermischt hat?

Ich bin der Meinung, dass er das nicht getan hat.