Konstruktion von Realität

Mit „Tauchfahrten. Zeichnung als Reportage“ widmet sich die Düsseldorfer Kunsthalle einem lange vernachlässigten Medium. Die Schau vereint auch zeitgenössische und historische Positionen

VON KÄTHE BRANDT

Die Vorstellung, eine Zeichnung sei „authentischer“ und wirklichkeitsgetreuer als manches harmonisierte und harmonisierende Gemälde, ist eine verbreitete Annahme, die die gezeichnete Dokumentation in die Nachbarschaft der Fotografie rückt.

Die Zeichnung aber galt vornehmlich als Dienstleisterin, als Entwurfshilfe oder Vorstudie, zur Skizzierung eines meist komplexeren malerischen oder skulpturalen Projekts, als flinke Aufzeichnung einer äußeren „Realität“, als marginales Zufallsprodukt. Künstler wie William Kentridge etwa, der die Zeichnung zu einem zentralen Medium seiner Kunst macht und sie gleichzeitig überbietet, indem er sie filmisch in Bewegung versetzt und die Bedingungen ihrer Entstehung reflektiert, erscheinen als Ausnahme. In dem großen Ausstellungsprojekt „Tauchfahrten. Zeichnung als Reportage“ widmet sich die Düsseldorfer Kunsthalle noch bis Ende April dem lange vernachlässigten Medium. Die Schau, die bereits im Kunstverein Hannover zu sehen war, vereint zeitgenössische und historische Positionen und repräsentiert das breite Spektrum künstlerischer Auseinandersetzung mit der Zeichnung und ihrer Reportagefunktion. Die Zeichnung ist – noch ein Mythos – ungefilterte, spontane Äußerung, die dem Gefühl näher ist als dem intellektuellen Kalkül, der also aus diesem Grund eine irgendwie größere Authentizität zuzusprechen ist. Sie gilt als unmittelbare und unverstellte Spur des Unbewussten, als Gestalt gewordene écriture der Seele, der Phantasie, der Imagination. Dieser Aspekt allerdings bleibt in der Düsseldorfer Ausstellung gänzlich ausgeblendet. Ihr geht es in erster Linie um die mimetisch-illustrative Funktion der Zeichnung, um die sorgfältig ausgearbeiteten Repräsentationen, um glaubhafte Augenzeugenschaft. Zeichnung scheint sich, wo Fotografieren nicht möglich oder nicht erwünscht ist, als Medium zur Dokumentation und Reportage besonders zu eignen. Zumal sie als Vorläuferin der Reportagefotografie schon erprobt ist. Dieser historischen Rolle widmet die Ausstellung einen ganzen spannenden Raum von Reproduktionsgrafik des 19. Jahrhunderts bis zu den kalt-schönen Aquarellen von John Singer Sargent (1856-1925), der als Kriegsberichterstatter den 1. Weltkrieg lavierte. Eine in ihrer emotionslosen Schönheit erschreckende Reportage, die allein die banalen Momente eines Krieges betont. Diese Bilder werden erstmals in Europa gezeigt.

Den beeindruckenden Bergwerkszeichnungen Alfred Schmidts (1930-1998), die ebenfalls als Dokumente einer konkreten historischen Situationen deklariert sind, ist ihr sozialkritischer Impuls deutlich anzumerken. Sie leugnen ihre Stellungnahme zu sozialen oder politischen Missständen nicht – hier die geplanten Zechenschließungen in Gelsenkirchen. Vielmehr verfolgen die Reportagen des 20. Jahrhunderts (mehr oder weniger absichtsvoll und mehr oder weniger offenbar) über die reine Berichterstattung hinaus ein konkretes, in weiterem Sinne politisches Ziel. Alfred Schmidt nutzte seine Zeichnungen für Aufsehen erregende politische Aktionen und wurde der erste Ehrenbürger des Ruhrgebiets.

Ein wichtiger Teil der Ausstellung widmet sich neben der zeichnerischen Einzelbild-Reportage den fortlaufenden Narrationen in Comics, die ähnlich kritisch biographische mit politischer Wirklichkeit verbinden (Joe Sacco) oder als politisches Propagandainstrument eine Millionenauflage erfuhren, wie die Bildergeschichten des chinesischen Autors He Youzhi: „Das Mädchen in der Volkskommune“. In diesen Heftchen werden die umrissbetonten klaren Zeichnungen mit einzelnen inszenierten Fotografien und deren Wirklichkeitsbehauptung in Beziehung gesetzt. So wird aus der gezeichneten gesellschaftspolitischen Utopie eine ideale „Wahrheit“. In dieser wunderbar dichten und zeitaufwändigen, gut 300 Blätter umfassende Schau – kuratiert von Clemens Krümmel und dem Düsseldorfer Zeichner Alexander Roob – lässt sich manche erstaunliche Entdeckung machen.

Kunsthalle Düsseldorf19. Februar bis 24. April