Mut zur Gegenwart

Mit der Aufführung von Monteverdis Oper „Die Heimkehr des Odysseus“ zeigen René Jacobs und Immo Karaman, wie barock sich die neue Mitte anfühlt. Volker Schlöndorff dagegen macht Leoš Janáčeks „Aus einem Totenhaus“ zum Volksmärchen

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Was ist Oper? Das zum Beispiel: ein kleines, groteskes Konzert von Geigen und hohen Bläsern über einem dunklen, bedrohlich pochenden Untergrund des tiefen Blechs. Es gibt den Ton an für Leoš Janáčeks Antwort auf diese Frage. Oper ist ein Konzert für Stimmen und Instrumente, im Falle seines letzten Bühnenwerkes „Aus einem Totenhaus“ eine Symphonie in vier Sätzen, die sich in die Unterwelt der Seele aus Dostojewskis Romanvorlage bohrt. Die Gefangenen eines sibirischen Lagers erzählen ihr Schicksal nicht nur, sie singen buchstäblich um ihr Leben.

Niemand ist böse oder gut, die menschliche Seele insgesamt ist ein einziger Abgrund der Gewalt. Im Scherzo des zweiten Bildes (oder Satzes) lassen sie sich als plumpen Jahrmarktschwank vorspielen, was sie selbst sind, aber auch in den anderen Teilen zwingt Janáček den Schrecken immer wieder in die Rhythmen von Volkstänzen, deren farbige Fröhlichkeit schauern lässt. Getrieben von dieser allgegenwärtigen, blinden Urgewalt des Tanzes stürzen sich die Sänger in ihre Vokalsoli. Zu sagen jedoch haben sie nichts mehr, sind selbst nur noch Instrumente einer furchtbaren Klangmaschine.

Wunderbar präzise, dennoch intensiv und spontan musizierend geben Orchester und Solisten der Deutschen Oper mit diesem vollkommen undramatischen, in beinahe brechtschem Sinne epischen Werk eine gültige Antwort auf die Frage, was Oper sei. Gestört werden sie dabei nur von Volker Schlöndorff. Der Filmregisseur scheint uns vor allem überzeugen zu wollen, dass diese Oper auf keinen Fall an Auschwitz, den Gulag oder an Guantánamo erinnern darf. Nach diesem Ausschlussverfahren fiel ihm nur noch ein, was er vielleicht für ein russisches Volksmärchen hält: Niedlich mit sibirischen Landschaften bemalte Tapeten bilden das Bühnenbild für niedliche Polizisten und niedliche Männer im Schlafanzug. Sie haben schrrrrrecklich viel Sääle, grrrroßes Herrrz und saufen zu viel. Es ist wirklich ein Jammer, das zu sehen, und es spricht sehr für das Berliner Publikum, dass es solidarisch mit der wirklich bewundernswert großen Leistung des Ensembles am Ende dennoch geklatscht hat. Warum denn sollte ein Werk wie dieses nicht an die politische Gegenwart (zu der auch Auschwitz gehört) erinnern dürfen? Immerhin lässt Janáčeks Musik die Frage zurück, ob denn die politisch zweifellos korrekte Unterscheidung zwischen Opfern und Tätern wirklich die ganze Wahrheit sei. Könnte es sein, dass der tiefste Grund der Hölle von Auschwitz nicht der Terror der Herrschaft, sondern diese hoffnungslose, allen gemeinsame Krankheit der Seelen war, die Janáček erklingen lässt?

Eine beunruhigende Frage nach dem Sinn der Oper, und wie grenzenlos dumm Schlöndorffs Rückzug in seinen privaten ästhetischen Schrebergarten tatsächlich ist, ließ sich am Freitag in der Staatsoper erkennen. René Jacob hat mit dem jungen Regisseur Immo Karaman seine neue Fassung von Claudio Monteverdis „Il Ritorno di Ulisse in Patria“ vorgestellt. Man sollte vielleicht von einer Uraufführung sprechen, denn es gibt von diesem Werk nicht viel mehr als Skizzen, die in Wien aufbewahrt werden.

Ein junger Mann im Dress der neuen Mitte singt in Sopranlage davon, dass der Mensch ein Unglück sei: Gehetzt von der Zeit und dem Sex hat er immer nur Pech. Göttliche Singstimmen aus den oberen Rängen des Saales (Fortuna, Amor und Tempo) geben ihm Recht. Das Spiel beginnt, es stellt sich bald heraus, dass der junge Mann Telemach ist, der Sohn des Odysseus. Zuerst aber zieht die Stammbesatzung des Schwarzenraben und des Borchardts auf. Es stört überhaupt nicht, dass sie in Italienisch singen von Göttern und Heldentaten in Troja, das nun endlich in rauchenden Trümmern liegt. Es könnte auch Bagdad sein. Das Geheimnis dieser Verwandlung ist Monteverdis (und Jacobs) Musik: Janáček zwang die Musik dazu, wie Sprache zu klingen; Monteverdi dagegen zwang die Sprache dazu, Gesang zu werden.

Der Unterschied ist ein Unterschied des Stils, nicht des Prinzips. Homers Ende der Odyssee war auch 1640 eine Sage aus ferner Vergangenheit, Montverdis Erfindung des „parlar cantando“, des sprechenden Singens, macht daraus einen Spiegel der gegenwärtigen Gesellschaft – damals wie heute. Man muss nur den Mut haben, diese Idee auszuführen. Volle vier Stunden lang singen die allesamt in diesem Fach erfahrenen Sänger und Sängerinnen fast nur sparsam instrumentierte Rezitative. Keine Sekunde davon ist langweilig, in kleinstem musikalischem Raum mit einfachen Harmonien spielen sich welthistorische und private Dramen ab. Das also ist Oper. Mozart, Verdi, Wagner, Puccini, Janáček, Schönberg: Für einmal war in einem seltenen Moment des Glücks zu hören, wie das alles anfing.