JOSCHKA FISCHER, DIE VISAPOLITIK UND DIE ZUKUNFT DER EU
: Ukrainer brauchen Reisefreiheit

Mitten in die Diskussion um ukrainische Schleuser, Huren und Menschenhändler platzt die CDU/CSU-Fraktion mit der Ankündigung, nächste Woche im Bundestag einen Antrag einbringen zu wollen: Demnach soll die Ukraine eine Perspektive auf die Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union erhalten. Das Publikum wird hier Zeuge zweier Inszenierungen. Gezeigt werden die Schlacht um den Außenminister und die Debatte um die künftigen Grenzen der Europäischen Union.

Selbstverständlich geht es bei den Angriffen der Opposition auf Joschka Fischers Amtsführung nicht um die Ukraine. Dass ihre Bewohner auf einmal nur noch als Prostituierte und Menschenhändler vorkommen, ja dass der Ausruf der Ausländerfeinde, womöglich seien „Hunderttausende“ von Ukrainern nach Deutschland gekommen, schon eine negative Konnotation enthält, wird als eine Art Kollateralschaden der doppelten Debatte hingenommen. Wobei die CDU/CSU offenbar glaubt, dass es ihr innerhalb ihrer Klientel mindestens nicht schadet, Ressentiments gegen Osteuropäer zu schüren. Einerseits.

Andererseits arbeitet ihr Außenpolitiker Volker Rühe – der schon vor den Demonstrationen in Orange durch die Ukraine tourte und Textilverkäuferinnen von den Vorzügen der Demokratie überzeugen wollte – an Konzepten für eine tragfähige Ukrainepolitik. Rühe geht es tatsächlich um eine EU-Perspektive für die Ukraine. Damit steht er seit dem Wahlsieg des Reformers Juschtschenko nicht mehr allein da. Das Europäische Parlament und sogar die EU-Kommission haben eingeräumt, dass es ein Fehler war, die Ukraine so lange zu ignorieren. Eines ist offensichtlich: Wenn der Europäische Rat heute über seinen Aktionsplan für die Ukraine entscheidet, dann schafft er keine Alternative zu Beitrittsverhandlungen, wie Brüssel seine Nachbarschaftspolitik selbst betrachtet, sondern de facto eine Vorstufe.

Die Ukrainer wiederum haben in ihrer großen Mehrheit deutlich gemacht, dass sie mehr von der EU wollen als jene Nachbarschaftspolitik – mindestens eine schnelle Assoziierung. Es gibt auch keinen vernünftigen Grund, ihnen die Vollmitgliedschaft grundsätzlich zu verweigern, auch wenn selbst die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen derzeit noch in weiter Ferne liegt. Wichtig sind jetzt konkrete Schritte, etwa Handelserleichterungen, Zusammenarbeit im Umweltschutz und – Einreiseerleichterungen.

Denn wenn sich die Ukraine der EU nähern soll, müssen zuerst die Ukrainer in die EU kommen. Was also auf der Agenda von Regierung und Opposition in Deutschland stehen sollte, ist eine liberalere Visapolitik für Ukrainer. Der größte „Amtsverstoß“ des Außenministers ist es deshalb auch, eine Stimmung zugelassen zu haben, in der eine solch liberale Reisepolitik nicht mehr möglich scheint.

Die Ukrainer erwarten von Deutschland keine Symbolpolitik, keine Sonntagsreden über historische Bezüge und strategische Optionen. Dass sie Europäer sind, wissen sie selbst. Sie brauchen eine solidarische Politik mit einem langen Atem. Dazu gehören die aktive Bekämpfung von Vorurteilen –und offene Grenzen. HEIKE HOLDINGHAUSEN