„Es gibt in Deutschland ein Patt der großen Lager“

Der Politologe Franz Walter hält das knappe Wahlergebnis in Kiel für einen Ausdruck allgemeiner Orientierungslosigkeit bei den Wählern

taz: Herr Walter, Rot-Grün hat in Schleswig-Holstein deutlich schlechter abgeschnitten als in allen Umfragen. Lag das an der Visa-Affäre?

Franz Walter: Ich halte das eher für ein Thema des Berliner Politikbetriebs. Bei der SPD ist einfach eine Luftblase geplatzt. Es war ein genialer Bluff des Vorsitzenden Franz Müntefering, dass er die Wahlniederlagen in Brandenburg und Sachsen zu einem Sieg erklärt hat. Gerade im Westen Deutschlands ist der Vorsprung von Schwarz-Gelb gegenüber Rot-Grün aber noch immer sehr groß.

Was hat die SPD falsch gemacht?

Darüber sagt dieses Ergebnis gar nichts aus. Es ist Ausdruck einer Richtungslosigkeit der Wähler. Es gibt in diesem Land keine wirkliche Mehrheit für ein rot-grünes Projekt. Es gibt aber auch keine klare Mehrheit für eine schwarz-gelbe Wende in Deutschland.

Diesmal konnte die NPD von dieser Orientierungslosigkeit nicht profitieren. Warum?

Auch die NPD-Debatte der vergangenen Monate war eine solche Luftblase. In Schleswig-Holstein hat die Partei gerade mal hundert Mitglieder, es gibt keine festen Strukturen wie etwa Ortsvereine.

Der Rechtsradikalismus ist also doch ein ostdeutsches Phänomen?

Wir haben in Deutschland ein rechtsradikales Potenzial von 10 bis 15 Prozent – im Osten wie im Westen. Um dieses Potenzial zu mobilisieren, braucht man aber Strukturen. Die gab es in Sachsen, und die gibt es in Schleswig-Holstein eben nicht.

Was bedeutet das Kieler Ergebnis für die nordrhein-westfälische Landtagswahl in drei Monaten?

Wir werden dort eine Art vorgezogene Bundestagswahl erleben – nachdem man schon glaubte, der Wahlkampf werde dort gar nicht mehr so dramatisch. Auch hier wird sich wieder bestätigen: Es gibt ein Patt der beiden großen Lager.

Und warum haben die Grünen nicht so viel hinzugewonnen wie in Umfragen vorausgesagt?

Die Grünen haben heute die unpolitischste Wählerschaft überhaupt. Überragende Ergebnisse bekommen sie in den großbürgerlichen Stadtvierteln, wo man morgens in Boutiquen einkauft und abends teuren italienischen Rotwein trinkt – aber trotzdem die Grünen wählt, damit man sich ohne große Anstrengung für einen Reformer halten kann. Auch das ist eine Luftblase. Immer dann, wenn das Flair der Grünen nachlässt und die Partei einen Hautgout bekommt, gehen diese Stimmen verloren.

Weil Fischers Verhalten in der vorigen Woche nicht mehr cool war?

Ja. Das Flair war weg. Man konnte sich nicht mehr gut fühlen, nur weil man die Grünen wählt. Der Eindruck war: Die sind auch nicht anders als die anderen Parteien.INTERVIEW: RALPH BOLLMANN