Wahlgewinner, aber nicht Sieger: Harry Peter Carstensens Traum vom Ministerpräsidentensessel schien für wenige Stunden in greifbare Nähe gerückt. Jetzt scheint er geplatzt. Exklusiv in der taz nord: Die Analyse eines Beinahe-Überraschungserfolgs

Hat er das verdient? Peter Harry Carstensen, Spitzenkandidat der schleswig-holsteinischen CDU, hatte sich bereits zum Wahlsieger erklärt, als die Hochrechnungen plötzlich kippten. Die hauchdünne Mehrheit von einem Sitz im Kieler Landtag verschwand, wie sie gekommen war, in den Tiefen der Computersysteme.

Nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis sieht es so aus, als wäre Peter Harry Carstensen der Gewinner der Wahl, aber nicht der Sieger. Viel spricht dafür, dass die beiden Abgeordenten des Südschleswigschen Wählerverbands SSW eher eine rot-grüne als eine schwarz-gelbe Regierung unterstützen.

Dabei hatte Carstensen einen beispielhaften Endspurt hingelegt. Die 40,2 Prozent für die CDU und damit ja auch irgendwie für ihn schienen allen Prognosen zufolge utopisch zu sein. Woran also lag‘s, dass es doch nicht gereicht hat? Lag es an den Fettnäpfchen, in die Carstensen zu Beginn des Wahlkampfes getreten war?

Der Mann, dem von seiner Tätigkeit im Bundestags-Agrarausschuss das Etikett „fischpolitischer Sprecher der CDU“ anhaftete, hatte per Bild-Zeitung eine Heiratsannonce aufgegeben. „Bild leitet alle Zuschriften und Fotos an Peter Harry Carstensen weiter“, las das staunende Wahlvolk. Auch mit dem seinem ersten Schattenkabinett gab es Probleme, die Halbwertszeit belief sich auf eine Woche.

Möglicherweise aber lag es gar nicht daran, dass Peter Harry Carstensens Vorsprung auf der Zielgeraden schmolz. Ehrliche Haut, die er ist, fehlt ihm, was die Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein immer ausgezeichnet hat: das Attribut. Menschen, die in einem Land wohnen müssen, in dem es weite Flächen gibt, aber nichts, woran sich das Auge festhalten kann, lieben Attribute. Heide Simonis zum Beispiel hat ihre Hüte. Sie lässt sich mit ihren Hüten fotografieren, sie redet über ihre Hüte, und weil es in Deutschland keine Queen gibt und auch keine Queen Mum, finden das viele sehr mutig.

Möglich, dass Simonis das Hutthema zuletzt ein bisschen überstrapaziert hat. Ein Ministerpräsident darf niemals auf sein Attribut reduziert werden, sonst ist das Attribut keines mehr. Richtig erkannt hatte das immer der Vorgänger von Heide Simonis Björn Engholm (1988-1993). Sein Attribut war die Pfeife, doch stand die Pfeife bei ihm nie bloß für eine Macke. Sie war eingebettet in ein komplexes System, zu dem auch der geneigte Kopf gehörte und sein verblüffendes Interesse für moderne Kunst.

Engholm stürzte über die Nachwehen der Barschel-Affäre,wo er sich im Nachhinein als der Machtpolitiker outete. Die Enthüllungen waren mit seinem Attribut nicht mehr kompatibel, Engholm musste abdanken.

Bei den katholischen Heiligen dienen Attribute dazu, das besondere Ereignis sichtbar zu machen, durch das sie zu Heiligen wurden. So trägt die Heilige Katharina das Rad, auf das sie im Auftrag des römischen Kaisers Maxentius geflochten werden sollte. Durch ein Wunder zerbrach das Rad, die Heilige wurde dann später enthauptet.

Bevor Uwe Barschel (1982–1987), der Vorgänger Björn Engholms, für immer in seiner Badewanne versank, war sein Attribut der ehrliche Blick, kombiniert mit der aufs Herz gelegten Hand. Ich, Barschel, lüge nie, bedeutete diese Geste, und das war leider gelogen. Das Ende der Geschichte ist so traurig wie bekannt, Barschel starb in einem Genfer Hotel. Der Schönheitsfehler an Barschels Attribut der aufs Herz gelegten Hand war immer, dass er es erst gegen Ende seiner Amtszeit einführte. Hätte seine Geschichte gehalten, wäre es aber gut gewählt gewesen.

Die Barschel’sche Fallhöhe zu erreichen, ist nicht schwer. Peter Harry Carstensen, der immer noch aussieht wie der Junge, der Kapitän werden will, ist davon meilenweit entfernt. Dass es trotzdem möglich ist, sich aus der Farblosigkeit zu einem schönen, fetten Attribut emporzuarbeiten, beweist der Fall von Gerhard Stoltenberg (1971–1982). Was war sein Attribut? Der strenge Seitenscheitel? Der eisige Blick?

Nein, nichts von dem. Elf Jahre lang war der Mann Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, bevor er als Kohlscher Finanzminister zum Attribut der Aktentasche fand. Bei der Aktentasche kam Stoltenberg zu sich. Nur politische Zufälle verhinderten, dass Stoltenberg für alle Zeiten der deutsche Finanzminister blieb. Auch für Peter Harry Carstensen ist es nicht zu spät. Daniel Wiese