Allein und doch zweistellig

Hoffen auf verlorenem Posten: Zur Wahlparty trafen sich am Sonntag auch die parteilosen Einzelbewerber in Kiel. Aber die Erststimmen haben sich die großen Volksparteien weitestgehend untereinander aufgeteilt. Für die Direkt-Demokraten war bei dieser Landtagswahl kein Blumentopf zu gewinnen

aus KielBenno Schirrmeister

Gewonnen hat hier keiner. Aber man fühlt sich auch nicht als Verlierer: In Kuddel’s U-Boot-Bar wird geklönt und gelacht, ein paar Kinder hüpfen durch die Stuhlreihen, alles lauschig-familiär. Die U-Boot-Bar befindet sich in einem still gelegten Wartehäuschen an der Endhaltestelle der Buslinie 62 in Kiel-Wik, direkt gegenüber der ehemaligen Marine-Schule.

Am Wahltag stecken Papierfähnchen in den Landesfarben in der matschig-grünen Verkehrsinsel vor dem geschwungenen 50er-Jahre Bau, in dem Marco Giurini an normalen Sonntagen Kaffee und Kuchen für die Eltern und Figurentheater für Kinder serviert. Aber nicht heute. Heute steht Giurini am improvisierten Tresen im bunt ausgemalten Interieur und gibt „schleswig-holsteinische Freiheitssuppe“ im Plastikteller aus. Mit Wurststückchen. zur Feier des Tages.

Denn heute ist Wahlparty: Giurini ist in Kiel Nord angetreten, als erster parteiloser Kieler Landtagskandidat aller Zeiten, der im Falle eines Erfolges für die „Einführung des eigendynamischen Tschaka Tschaka Projektes“ gesorgt hätte. „Feiern Sie mit uns“, steht auf der Einladung, „den Anfang vom Ende der Parteien.“

Das vorläufige amtliche Endergebnis spricht eine andere Sprache: 25 Wahlkreise gehen an die CDU, 15 an die SPD: Die großen Volksparteien haben auch das Gros der Erststimmen unter sich aufgeteilt – da ist nicht ein Ausreißer in Sicht. Sieben Parteilose waren angetreten, drei von ihnen haben sich zum Feiern in der U-Boot-Bar verabredet, zwei sind gekommen. Alle waren sie chancenlos. Wäre Schleswig-Holstein kein gutes Pflaster für Direktdemokraten?

Aber noch ist es früh am Wahlabend, noch liegen keine verlässlichen Zahlen vor, und Holger Thiesen, der aus Rendsburg extra angereist ist, schaut gebannt auf den Fernseher oben rechts: Als er das erste mal angetreten war, hatte er in seinem Landkreis immerhin 7,2 Prozent der Stimmen erhalten. Diesmal hofft er auf ein zweistelliges Ergebnis, und die Gäste der Wahlparty der parteilosen Einzelbewerber fiebern mit ihm, zumal sich in den ersten Hochrechnungen schon ein Patt abzeichnet: „Wenn du gewonnen hättest, dann wärst du nachher die eine Stimme, die alles entscheidet“, sagt jemand, und das ist höchstens halb als Flax gemeint. Seit 1949 hat in Deutschland kein Parteiloser mehr den Einzug in ein Landesparlament geschafft, aber Thiesen, dem ehemaligen Profi-Handballer mit der hohen Stirn, traut man die Sensation noch am ehesten zu. Er weiß das und lacht ein wenig geschmeichelt. Und er nimmt, weil er auch nicht an Selbstzweifeln leidet, den Ball auf: „Dann müssten die mit mir reden“, und schaut wieder auf den Bildschirm.

Acht Wochen lang hat Thiesen Intensiv-Wahlwerbung betrieben, „täglich zwei, drei Stunden“, erzählt er, „im Durchschnitt“. 20.000 Flyer hat er verteilt, mit einem ganzen Netzwerk an Helfern, „aus den Sportvereinen“. An den Wochenenden ist er mit einer orangenen Schärpe durch Rendsburg gelaufen, „da wird man von sehr vielen angesprochen: Hoho, da kommt Mister Universum – und dann hat man schon gewonnen, weil da Humor dabei ist.“ Trotzdem: Bloß 465 Stimmen, umgerechnet 1,5 Prozent verkündet das Statistikamt Nord nüchtern am nächsten Tag. Damit ist Thiesen abgeschlagen Letzter. Jetzt sagt er zwar, das steckt er weg. Und für ihn sei das erst Halbzeit, bei der Bundestagswahl im nächsten Jahr werde er bestimmt noch einmal antreten. Aber der Humor scheint ihm ein bisschen vergangen zu sein: Strafanzeige hat er gegen eine Mitbewerberin erstattet, wegen Betrugs, ganz ohne Scherz. Weil die empfohlen habe, einem anderen Kandidaten als ihr die Erststimme zu geben. Das Resultat sei also manipuliert. „In Rendsburg“, sagt Thiesen, „muss die Wahl wiederholt werden.“

Viel schlechter als Thiesen hat Giurini auch nicht abgeschnitten: 0,4 Prozent der Stimmen in Kiel Nord. Und der jungenhaft wirkende Teilzeit-Kneipier ist die Sache viel laxer angegangen: Die nötigen Unterstützer-Unterschriften für die Kandidatur, die habe zum Großteil sein Vater gesammelt. Und Flugblätter hat er auch nur am letzten Wochenende ausgeteilt. „Ich sehe das auch als eine Art, sich in die Politik einzuarbeiten“, sagt er. Aber Parteien, das sei aus seiner Sicht „einfach nicht mehr zeitgemäß. Das ist vorbei.“

Aber wie als Einzelner Politik gestalten? Der Frust über die Parteien-Demokratie, der so verbreitet sein soll, motiviert die Einzelbewerber, zu kandidieren. „Diese Strukturen, das führt zu Verfilzung“, das ist ein oft gehörter Satz in der U-Boot-Bar. Deshalb macht man sich auch nicht die Mühe, eine eigene Organisation aufzubauen, sondern tritt, ein bisschen wie ein romantischer Abenteurer, allein gegen den Rest der Welt, an. Ein gemeinsames Programm gibt es folgerichtig nicht, höchstens, wie Thiesen erläutert, gemeinsame Grundsätze. Etwa den, „Politik für den eigenen Wahlkreis zu machen“ oder den, dass „Abgeordnete Vorbild zu sein“ hätten.

Zum guten Ton der Solisten gehört es auch, zu hohe Diäten der Mandatsträger anzuprangern, ihre Kürzung zu fordern, oder doch zumindest ihre nächste Erhöhung an die „Halbierung der Staatsverschuldung“ zu koppeln. Darüber hinaus gibt es immer eine gewisse Anzahl teils charmanter, teils versponnener Projekte – die bei Bürgerinitiativen und Vereinen bestens aufgehoben wären. „Die ganze Parlamentskultur müsste sich ändern“, findet hingegen Thiesen und erklärt, wie er sich einen Landtag vorstellt, in dem eine größere Zahl von Parteilosen Politik macht: „Dann werden die konkreten Probleme diskutiert“. Als Beispiel nennt er möglicheProbleme bei Kindertagesstätten. Da könnten Abgeordnete aus Wahlkreisen gute und schlechte Erfahrungen miteinander austauschen – und die gute Erfahrung würde natürlich als Modell dienen.

Immer wieder gleitet Weiß auf Blau das Zahlenband am unteren Rand des Bildschirms entlang. Ein älterer Herr jubelt kurz auf, als die vermuteten 2,4 Prozent für die Sonstigen aufleuchten, wird dann aber belehrt, dass diese Schätzungen nur die Zweitstimmen betreffen: „Das sind die Bibeltreuen Christen und die Grauen und die Familienpartei und so.“ Ach so. Eine kleine Enttäuschung.

Die Erststimmen-Resultate kann man sich erst spät am Abend auf den Internet-Seiten der Landkreise anschauen. Und, daheim angekommen, hat Holger Thiesen das auch gleich getan. „Ich hab’“, erzählt er am nächsten Tag, „natürlich sofort bei der Gemeinde Nübbel nachgeguckt.“ Null Stimmen würden da angezeigt, und da wusste er, das kann nicht stimmen. „Das sind ja meine Leute.“ Einige hätten ihm sogar ganz fest versprochen, ihn zu wählen. Die hat er noch aus dem Schlaf geklingelt. Und den Bürgermeister auch. Der hat ihn dann beruhigen können: „Ne Holger, sagt der mir, du hast Wähler bei uns.“ Irgendwie hat’s wohl einen Softwarefehler gegeben bei den Internet-Seiten des Kreises. Der gehört natürlich korrigiert. Statt Null müssten bei Thiesen 97 Stimmen stehen. Ein strahlender Sieger ist er damit zwar selbst im Heimatort nicht. Aber doch hat er ein persönliches Ziel erreicht: 97 Stimmen, das sind in Nübbel 10,5 Prozent.