BERNHARD PÖTTER über KINDER
: Lebenslang auf Bewährung

Erwachsensein (II): Wir ziehen Kinder groß und stellen uns dem Leben. Trotzdem sind alle anderen viel erwachsener

Na gut – es gab ein paar Gründe, die mich 15 Jahre jünger aussehen ließen: Es begann ein bisschen zu dämmern und ich saß, erhitzt vom Joggen, vor dem Haus meiner Schwiegereltern. Meine Haare waren sommerlich gekappt. Und die alte Nachbarin, Frau S., hat schon ein bisschen schwache Augen. Deshalb fragte sie: „Und was machst du hier?“ – „Ich bin der Mann von Anna“, sagte ich. – „Oh“, meinte die Nachbarin, „da hat sie aber auch einen jungen abbekommen.“

Ich bin nicht jung. Ich werde dieses Jahr 40, „Freunde“ werden mir zu diesem Geburtstag die Formulare für den Rentenantrag schenken. Und ein T-Shirt, auf dem steht: „Ich bin 40. Bitte helfen Sie mir über die Straße!“

„Deine Sorgen möchte ich haben“, sagt mein Freund Frank. Er ist zwei Jahre jünger als ich. Aber er hat sich mit seinem Schreibtischjob, seinem Rauchen und seinen Kneipenbesuchen in einen Zustand gebracht, dass ihm die Jugendlichen in unserer Nachbarschaft schon wieder mit Respekt begegnen. Ehrfurcht vor Patriarchen haben sie gelernt. Mitleid mit jung gebliebenen Vätern aber nicht. Und von wegen: jung geblieben. Frank ist zwar nach außen ein Wrack. Aber er hat wenigstens noch intakte Trommelfelle.

Jetzt schauen Sie sich nur mal das Foto unten an: Was Sie nicht sehen, ist das verknautschte Rückgrat von Jonas’ Überraschungsangriff beim Kämpfen. Die angeknackste Rippe von Tinas Trampolinübung auf meinem Bauch. Oder den von Stans vier Biberzähnen wund gebissenen Zeigefinger.

Aber es ist nicht nur die Fassade. Es ist die Einstellung. Ich komme mir einfach nicht vor wie ein Vater von drei Kindern. „Bist du aber“, sagt Anna mit Nachdruck, als ich ihr davon erzähle. (Hilfe, mein Frau versteht mich nicht! Wahrscheinlich bin ich doch zu jung für sie). Selbstverständlich sind Jonas, Tina und Stan meine Kinder. Klar bin ich ihr Vater. Aber unser Leben fühlt sich nicht so an, als seien wir tatsächlich eine fünfköpfige Familie. „Was denn sonst?“, fragt mich Anna entgeistert. Gute Frage. Vielleicht mehr so etwas wie eine WG mit klaren Kommandostrukturen. Eine altersgemischte Kommune mit demokratischem Zentralismus. Die fröhliche Verschmelzung von Matriarchat und Monarchie: die Annarchie.

„Natürlich sind wir erwachsen“, sage ich zu Anna. „Aber irgendwie nicht im klassischen Sinne.“ Klassisch sind unsere Bekannten Horst und Kerstin. Er ist leitender Angestellter, sie ist Ärztin, bleibt aber mit den zwei Kindern zu Hause. Er: Lodenmantel zum Schlips und leichte Wampe. Sie: Goldschmuck und Solariumsbräune. (Wir: Jeans, Glasperlen und Winterblässe).

Sie fahren Auto (wir: U-Bahn). Sie leben im Reihenhaus (wir: drei Zimmer). Sie haben einen Swimmingpool (wir: Badewanne). Sie machen Urlaub im Kinderhotel (wir: bei Freunden oder bei Oma). Horst macht Karriere (ich: Elternzeit), Kerstin spielt Bridge im Rotary-Clubs (Anna singt im Chor). Ihre Kinder spielen Tennis und Klavier. Unsere Kinder spielen verrückt.

Und Horst und Kerstin sind so alt wie wir. Ich rede gar nicht von der Generation unserer Eltern. Wenn ich mir die alten Fotoalben ansehe, weiß ich: So erwachsen wie meine Eltern mit 25 waren, werde ich nicht mit 52 sein. Mit Schlips und Sakko beim Kindergeburtstag! „Klar, die Männer haben ja auch nur rumgesessen“, sagt Anna. Ein Blick auf die Frauen ändert das Bild aber auch nicht: Die mussten mit uns Rackern rackern und trugen trotzdem Kostümchen.

„Erwachsen sein macht sich doch nicht an Schlipsen fest“, sagt Anna. Stimmt ja. Verantwortung übernehmen, sich in der Welt zurechtfinden, das Wichtige vom Unwichtigen unterscheiden, all das ist viel wichtiger. Ja. Ja. Ja. Und trotzdem: Sind wir erwachsen? Nur auf Bewährung, das aber lebenslang.

Gibt es überhaupt erwachsene Menschen? Selbst mein Glaube an Horst und Kerstin gerät seit kurzem ins Wanken. Einerseits sind sie so realistisch. So pragmatisch. So wenig durchgedreht. So seriös. Andererseits: Was für ein Auto fahren sie? Ein Cabrio.

Nächste Folge: Erwachsensein (III), Einstein – genial daneben

BERNHARD PÖTTER KINDER Fragen zur Annarchie? kolumne@taz.de Morgen: Bettina Gaus über FERNSEHEN