Absolute Regungslosigkeit

GILBERT & GEORGE Die Herren in den Maßanzügen machen immer weiter. 20 großformatige Fotomontagen aus der heimatkritischen Serie „Jack Freak Pictures“ von Gilbert & George sind jetzt bei Arndt & Partner zu sehen

„Die Moral der Sexualität, der Nation und der Ehe muss sich verändern“, sagen die beiden

VON JULIA GWENDOLYN SCHNEIDER

„Das Trauma, in das Künstler normalerweise nach ihrer Retrospektive verfallen, war bei uns ein außerordentlich gutes.“ Nachdem das Lebenswerk des britischen Künstlerduos Gilbert & George 2007 gewürdigt wurde, zog es sich zurück und produzierte explosionsartig neue Werke. „Wenn wir uns an die Arbeit machen, versuchen wir den Kopf so leer wie möglich zu haben. Das ist wie die Vorstellung vom automatischen Schreiben. Nur so kommt unsere Bildproduktion richtig in Gang.“ Sie nennen die neue Serie, die mit 153 Werken ihre bislang größte Werkgruppe umfasst, „Jack Freak Pictures“. 20 der großformatigen Fotomontagen sind jetzt in der Galerie Arndt & Partner zu sehen.

In „Brits“ (2008) blicken uns zwei merkwürdige Sonderlinge mit verzogenen Fratzen vor dem Hintergrund des Union Jack grimmig an. In „Britishism“ gibt es nur noch Fragmente der Nationalflagge zu erkennen. Wie eine Mustertapete durchziehen diese das Bild und öffnen sich in der Mitte zu einem weit aufgerissenen Gebiss, auf dem zwei clownesque Kopfreihen in Blau und Rot thronen. Innerhalb der mustergewaltigen Darstellungen und tänzelnden Auftritte drücken wenige Schlüsselelemente ein ganzes Repertoire an Themen und Emotionen aus. Verstörend und ausgelassen setzt das Duo Medaillen, Bäume, den Stadtplan von East London, Muster und Farben des Union Jacks, städtische Straßen und sich selbst – marionettenhaft oder monströs – in schier unerschöpflichen Nuancen ein.

Das wirkt wie eine einzige große Performance, in der die beiden die Hauptrolle spielen und Grundsatzthemen verhandeln, ohne zu moralisieren: „Wir wollen für eine Befreiung der Moral der Vergangenheit sorgen. Die Moral der Sexualität, der Nation und der Ehe muss sich verändern.“ Auf beschränktes Denken antworten sie mit Fantasie. Wie weit sich damit die Welt verändern lässt, ist bekanntlich diskutierbar. Beide sind zumindest mächtig stolz darauf, Kunst aus einem Gefühl heraus zu produzieren und nicht Kunst über Kunst zu machen, wie das damals ihre Freunde taten.

Wie alle Kunst, die Gilbert & George seit ihrer ersten Begegnung 1967 an der St. Martin’s School of Art geschaffen haben, erwecken auch die „Jack Freak Pictures“ eine Welt zum Leben, in der sie selbst sowohl Künstler als auch Kunst sind. Das ist genau der Punkt, von dem aus sich ihre Karriere entwickelt hat.

1969 bis 1977 traten sie als „Living Sculptures“ auf, präsentierten durch automatenhafte Bewegungen oder absolute Regungslosigkeit eine entleerte, stereotype Identität. Einem Mythos gleich berichten sie heute über ihre Geburtsstunden als Künstler. 1969 wurde die Wanderausstellung „When Attitude Becomes Form“ initiiert, zu deren Stationen lokale Kuratoren Künstler hinzufügen durften. Als die Schau nach London kam, ging das Duo fest davon aus, eingeladen zu werden. Nachdem sie wider Erwarten nicht gewählt wurden, entschieden sie als „Living Sculptures“ auf die Eröffnung zu gehen. In maßgeschneiderten Anzügen und metallisch angemalten Köpfen stellten sie sich mitten in die Ausstellung und wurden zur absoluten Attraktion. Und nicht nur das. Am Ende kam Konrad Fischer, einer der berühmtesten Galeristen seiner Zeit, und lud sie nach Düsseldorf ein. Aus ihrer „Singing Sculpture“, bis dahin nur ein Zwei-Minuten-Event, machten sie in der dortigen Kunsthalle ein achtstündiges.

Während ihrer ersten Ausstellung bei Konrad Fischer sollten sie den Preis für eine „Kohlestift auf Papier Skulptur“ nennen. „Wir sagten 1.000 Pfund und dachten nicht im Ernst daran, etwas zu verkaufen.“ Die Summe erschien ihnen enorm hoch, doch der Deal ging auf. Von dort aus entwickelten sie ihre richtungweisenden Fotoarbeiten weiter. Unverändert aber treten sie bis heute als Gentlemen in Maßanzügen auf, die antibürgerliche, kitschige bis vulgäre Kunst machen. Dieser Bruch gehört genauso ins Konzept wie ihr konsequent durchgezogener Status, sowohl Künstlersubjekte als auch Kunstobjekte zu sein, und dies auf komische, rührende und hochstaplerische Weise zugleich: Als beharrlich lebende Skulpturen erscheinen sie versunken in ihr Paralleluniversum, aus dem sie scheinbar nicht mehr heraustreten. Da lässt es sich entweder ihrer Romantik folgen und in ihre unaufhörlich poetische Sehnsucht eintauchen oder aber ihre Masche beschmunzeln, die längst wie ein ausgeklügeltes Markenzeichen funktioniert und mittlerweile Höchstpreise erzielt.

■ Arndt & Partner, Invalidenstraße 50–51. Bis 18. September. Di.–Fr. 12–18 Uhr; Sa. 11–18 Uhr