Rückenwind fühlt sich anders an

SPD und Grüne streiten, ob Fischers Visa-Affäre in Schleswig-Holstein geschadet hat und im Wahlkampf von NRW schaden wird. Und wenn ja, wem

„Bei solchen Dingen ist die Bevölkerung sensibel“, sagte SPD-Landeschef Schartau

AUS BERLIN LUKAS WALLRAFF
UND ULRIKE WINKELMANN

Hat die Visa-Affäre Rot-Grün in Schleswig-Holstein geschadet? Und – wichtiger – wird sie der Koalition im kommenden Landtagswahlkampf in NRW schaden? „Ich bin der festen Überzeugung, dass dieses Thema nicht wahlentscheidend in NRW sein wird“, sagte Dieter Wiefelspütz, der innenpolitische Sprecher der SPD im Bundestag gestern, neunzig Tage vor der wichtigsten Landtagswahl des Jahres in Nordrhein-Westfalen. Was ihn so hoffnungsfroh stimmt, ist der Last-Minute-Zittersieg für das rot-grün-dänische Bündnis in Schleswig-Holstein. „Solche Siege sind diejenigen, die man nie vergisst“, freut sich der Sozialdemokrat, „das überstrahlt alles.“

Seine Parteifreunde in Düsseldorf sehen das allerdings ganz anders. Sie sind direkt betroffen. „Das war nicht der Rückenwind, den ich mir versprochen hatte“, kommentierte Ministerpräsident Peer Steinbrück die schmerzlichen Verluste der Kieler Kollegin Heide Simonis.

Die SPD-Wahlkämpfer in Düsseldorf befürchten, dass die negative Berichterstattung über die Visa-Missbrauchsfälle weitergeht und dass sie mit den Problemen des grünen Außenministers Joschka Fischer infiziert werden. „Bei solchen Dingen ist die Bevölkerung außerordentlich sensibel“, sagte SPD-Landeschef Harald Schartau, mit Blick auf die eigene Klientel, die es durchaus irritieren könnte, „wenn Vorwürfe erhoben wurden, dass eben ermöglicht wurde, dass Schlepper-Banden hier arbeiten können.“

Je länger diese Vorwürfe ungeklärt blieben, so Schartau, und je länger von der Union „mit dicken Kugeln“ auf den Koalitionspartner, aber „zunehmend ja auch auf die SPD“ geschossen werde, umso wichtiger sei es, „die Dinge auf den Tisch zu legen“.

Ungewöhnlich offen machen die Rheinländer und Westfalen deshalb Druck, damit Fischer möglichst noch vor ihrer Landtagswahl vor dem Visa-Untersuchungsausschuss aussagt. Da muss es wie eine Drohung geklungen haben, dass die grüne Bundesministerin Renate Künast gestern sagte, die Grünen würden ihre „Strategie weiterfahren“.

Fischer selbst kommentierte den Einfluss der Visa-Affäre auf die Wahl so: „Hilfreich war es ohne jeden Zweifel nicht.“ Der Außenminister kritisierte, dass in der Visa-Affäre die Vorwürfe an ihn selbst „im öffentlichen Raum“ inzwischen „sehr ins Persönliche“ gingen. „Da frage ich mich, ob hier nicht ein ganz anderes Programm läuft, das einen Regierungswechsel beabsichtigt. Dass da meine Person im Mittelpunkt steht, das muss ich akzeptieren.“

Gerade der Überraschungseffekt am schleswig-holsteinischen Wahlergebnis legte gestern jedoch Vermutungen nahe, dass die Visa-Affäre vielleicht nicht bei den Grünen-Wählern, sehr wohl aber bei den traditionellen SPD-Wählerschichten eingeschlagen haben könnte.

Die Wahlforscher selbst stellten klar, dass ihnen die großen Wanderungen weg von der SPD hin zur CDU direkt vor der Wahl durchaus aufgefallen seien – nur hätten sie die eben nicht mehr veröffentlichen dürfen. Laut infratest dimap hat die SPD rund 53.000 Wähler an die CDU, ans Lager der Nichtwähler dagegen „nur“ rund 30.000 Wähler verloren. Laut Forschungsgruppe Wahlen sind diese Verluste vor allem bei den Arbeitern und Arbeitslosen zu verzeichnen.

Hier passiert zunächst einmal das Gleiche wie bei vergangenen Wahlen: In den gering verdienenden SPD-Wählerschichten schwindet das Zutrauen zur Fähigkeit der Sozialdemokratie, Arbeitslosigkeit und wirtschaftlichen Abstieg zu bekämpfen. Die Schockzahl „5 Millionen Arbeitslose“, die im Januar dank der statistischen Neuerfassung von Arbeitslosigkeit durch „Hartz IV“ zustande kam, dürfte da die miese Stimmung in Schleswig-Holstein ergänzt haben. Nur noch 3 Prozent der Bevölkerung halten die wirtschaftliche Lage im hohen Norden gerade für „gut“. Die Personalisierung des SPD-Wahlkampfs mit den „Heide“-Plakaten hätte dann die Wahl nicht verdorben, sondern vielmehr so gerade gerettet.

Vielleicht jedoch lässt die Plötzlichkeit der Wahlentscheidung zugunsten der CDU auch noch einen weiteren Schluss zu: Gerade bei Arbeitern und Arbeitslosen könnte der von der CDU ventilierte Anwurf, Rot-Grün habe mit der Visa-Vergabe die Schleusen für kriminelle Ausländer geöffnet, besonders verfangen haben. Deren Bedrohungsgefühle, vermutet der SPD-Bundestagslinke Ottmar Schreiner, dürften „in Kombination mit Massenarbeitslosigkeit und Lohndumping durch das Gerede vom ‚unkontrollierten Zustrom‘ noch gewachsen sein“. Ob eine Fischer-Aussage vorm Untersuchungsausschuss solche Stimmungen wieder einfängt, darf als zweifelhaft gelten. Ein Trost blieb der Regierungskoalition gestern jedoch: Bleibt Simonis im Norden am Ruder, bekommt die Union im Bundesrat ihre Zwei-Drittel-Blockade-Mehrheit nie. Selbst wenn sie am 22. Mai in Nordrhein-Westfalen gewinnt.