Immer alle mitverantwortlich

Innen problembewusst, außen blond: Auch bei dieser Berlinale präsentierten sich die Skandinavier als die Sozialpädagogen im europäischen Film

Als am Freitag, dem neunten Tag der sich dem Ende zuneigenden Berlinale, endlich der dänische Wettbewerbsbeitrag „Angeklagt“ von Jakob Thuesen über die Riesenleinwand im Berlinalepalast sein fahles Graublau ausbreitete, war es fast schon klar: Bärengold kriegt der nicht. Bescheiden genug hielt der Regisseur sein Werk auch nicht für den „besten Film der Welt“.

Zum Inhalt: Die 14-jährige Tochter bringt ihren Vater, einen Schwimmlehrer, durch den Vorwurf des sexuellen Missbrauchs vor Gericht. Gefolgt wird dem Mann durch sein soziales und seelisches Leben nach der Anklage. Wie es ein dänischer Bekannter sagte: „Schon wieder eine Familienproblemgeschichte.“

Das Thema Missbrauch in einer nach außen hin intakten Familie zieht sich seit Jahren wie ein roter Faden durch nordische Filme. Und ist oft sehr nahe gehend, einfühlsam und aufwühlend inszeniert worden. Oft genug? Wahrscheinlich nicht, aber oft genug auf die gleiche Weise. Der Faden, aus dem dieses schwierige Thema gestrickt ist, leiert aus.

Vielleicht liegt eine Schwierigkeit darin, dass Thuesen diesen Inhalt bloß als Rahmen für seine eigentliche Idee wählte, die mehr um die Wahrnehmung der täterväterlichen Hauptfigur kreist – in ihrer vexierbildartigen Ambivalenz sehr gut dargestellt durch Troels Lyby (der unter anderem auch in Lars von Triers Film „Idioten“ spielte): Wie ist es, plötzlich eingesperrt zu werden, wie geht er mit den Reaktionen der Umwelt um? Was nimmt er wahr, was ist wirklich da? Diese interessante psychologische Studie fiel jedoch leider dem konkurrierenden Missbrauchsthema zum Opfer

Der Ernst, der psychologische Konflikt im familiären Umfeld – das scheint verbindender Konsens im nordischen Film zu sein. Aus Finnland gab der Panorama-Beitrag „Eläville ja Kuolleille“ („Die Lebenden und die Toten“) Einblick in eine Familie, die ein Kind durch ein Unglück verlor. Der Vater fühlt sich für den Tod des Sohnes mitverantwortlich. Wie diese Familie ihren Alltag weiterzuführen versucht und nun immer wieder an gesellschaftlichen Konventionen aneckt, wie die Trauer durch Medikamente unterdrückt wird, damit man weiter funktionieren kann, das schildert der Regisseur Kari Paljakka so nüchtern wie glaubwürdig. In dieser subtilen Inszenierung, die eigentlich auf alle dramatischen Schmiermittel verzichtet, liegt viel Anstand und Respekt. Keine Musik, keine auffälligen Schnitte, nüchterne Bilder – Paljakka (dessen Sohn den Bruder des toten Jungen spielt) stellt sich in den Dienst der Aussage seines Filmes.

Was am Rande auffällt: Es wird viel Wasser getrunken, egal in welchem der skandinavischen Länder.

Schwedens Beiträge lassen bei allem Konfliktbewusstsein die hedonistische Seite des Daseins nicht aus. Da gab es Kay Pollaks „Wie im Himmel“, eine Tragikomödie, in der ein weltbekannter Dirigent und Komponist nach einem Herzanfall zur Erholung in sein Heimatdorf zurückkehrt und dort seine verklemmten, engstirnigen oder frustrierten Ex-Schulkameraden ordentlich in Aufruhr versetzt, als er anfängt, sich um den Kirchenchor zu kümmern. Da wird dann schon mal das eine oder andere Tässchen Kaffee oder gar ein Gläschen Alkohol gekippt in dieser nordischen Südstaatenprüderieszenerie. Und um die Liebe geht‘s auch.

Dass Schweden gern trinken und zum Verwechseln blond und hübsch sind – diesen Eindruck erhielt man besonders durch einen Beitrag für die Jugend: „Fjorton Suger“ („Fourteen Sucks“) lief in der Sektion Kinderfilmfest der Berlinale. Ein Beitrag des schwedischen Regiekollektivs Dansk Skalle. Mannigfaltiger Sozialkonfliktstoff auch hier: Pubertierende Partygänger überwinden Annäherungsschwierigkeiten und die Sorgen durch Mengen von Dosenbier. Im Suff vergewaltigt einer die 14-jährige Kleinstadtschönheit – den pädagogischen Ansatz für das Thema hat sich einer der vier blonden Jung-Regisseure durch Lektüre angeeignet. Alle beteuern, während der Dreharbeiten nur Wasser getrunken und eine Menge Spaß gehabt zu haben.

Kann man also auch. Dafür offerierte die Berlinale beispielsweise köstlich aromatisiertes österreichisches Mineralwasser. Und den Spaß am Wasser schilderte Lasse Perssons lustiger Animations-Kurzfilm „Bikini“. Für soviel Komik gab es dann auch die einzige Berliner Würdigung für einen skandinavischen Beitrag: eine lobende Erwähnung der Kurzfilm-Jury. Imke Staats