unterwegs zu hause im unterwegs von JAN ULLRICH
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Es ist wichtig: Ein Freund von mir hat eine Theaterpremiere und mich gebeten zu kommen. Ich habe mich sofort auf den Weg gemacht.

„Was um Himmels Willen machst du in Paris?“, fragt mich eine innere Stimme, nachdem ich schon eine Weile unterwegs bin. „Das ist Rom!“, erwidert eine andere innere Stimme, „wir sind auf dem Weg nach Rom!“ – „Bamberg!“, tönt nun eine dritte, „das ist ganz klar Bamberg.“ Ich bin gern unterwegs. Aber ich finde mich nirgends zurecht. Es ist zum Verzweifeln.

Normalerweise lebe ich in meinem kleinen Zimmer. Ich bin mir sicher: Das Schicksal hat mich hierher gespült, ein Ende meines Aufenthaltes ist nicht geplant. „Ach, wer da mitreisen könnte“, denke ich, während draußen vor dem Fenster die Welt vorüberrauscht. Dann setze ich mich ich in meinen Lehnstuhl, seufze tief und träume ein bisschen.

Selbstverständlich habe ich einen Plan. Aber je länger ich fahre, desto weniger verstehe ich ihn. Das Einzige, was ich noch zuordnen kann, ist „Planquadrat P 12“. Dort soll das Theater sein. Aber es ist, wie ich befürchtet habe: Es gibt nicht eine Abfahrt, es gibt mehrere. Um nicht zu sagen viele. Und auf keiner steht: „Planquadrat P 12“.

Während ich so fahre und suche, erklingt wie von Ferne ein Lied der Beach Boys aus dem Autoradio: „Wouldn’t it be nice / if we could live here / make this the kind of place / where we belong“. Ich verstehe kein Wort.

Zur Sicherheit trage ich immer einen Zettel in meiner Tasche, der mir helfen soll, wenn ich mal völlig verwirrt aufgegriffen werden sollte. Auf dem Zettel steht: „Nein, ich kenne keinen Herrn Dr. Graubart.“ Es gibt Momente in meinem Leben, wo ich fest an die Kraft dieses Satzes glaube. Es sind nicht irgendwelche Momente. Es sind Momente ganz besonderer Verzweiflung. Schlimmer noch, als wenn ich irgendwo in einem Supermarkt stehe und die Kassen nicht wiederfinde.

Zunächst versuche ich es aber mit Atemtechniken, dann buchstabiere ich Schriftstellernamen rückwärts, und schließlich konzentriere ich mich auf das langsame Öffnen und Schließen meiner Hand.

Zwischendurch trinke ich ungesüßten Jasmintee. Als das alles nicht hilft, kneife ich ein Auge zu, schaue mit dem anderen in die Ferne und hoffe, etwas zu erkennen. „So“, stelle ich mir vor, „hat Kolumbus Amerika entdeckt.“ Aber wie sehr ich auch den Horizont absuche: Kein vorbeitreibender Ast kündet von nahen Ufern, keine Taube mit einem Ölzweig gibt mir ein Zeichen der Hoffnung.

„Ich werde einfach dieselbe Strecke zurückfahren“, denke ich, als ein Mann, der aussieht wie Ulrich Wickert, auf mich zukommt und sagt: „Ich brauche das alles nicht mehr!“ Darauf nimmt er meinen Stadtplan, zerreißt ihn und geht.

Später kann ich mich für einen Moment im hell erleuchteten Fenster eines gegenüberliegenden Hauses erkennen und höre mich rufen: „Ist da draußen jemand?“ Doch so laut ich auch antworte, ich kann mich nicht verstehen.

„Ich bin gern, wo ich herkomme“, denke ich. „Ich bin gern, wo ich hinfahre. Warum stehe ich am Straßenrand mit Geduld ?“ Dann warte ich weiter.