BETTINA GAUS über FERNSEHEN
: Nichts als die Wahrheit

Das Fernsehen bildet die Realität ab. In diesem Fall: einen fröhlichen Wahlkämpfer und einen alt gewordenen Arzt

Die Behauptung, das Fernsehen verfälsche die Realität, ist am Sonntagabend glanzvoll widerlegt worden. Gleich mehrfach. Zum Beispiel bei „Christiansen“. Da trat ein Peer Steinbrück auf, den man so noch nie gesehen hatte. Entspannt war der nordrhein-westfälische Ministerpräsident, locker, sogar witzig. Keine Spur war geblieben von dem blassen, steif wirkenden Technokraten, dem alle Welt prophezeit hatte, er werde es schwer haben, im Wahlkampf gut rüberzukommen. Wenn die gute Laune anhält, dann muss sich sein Gegner Jürgen Rüttgers im Landtagswahlkampf warm anziehen.

Aber woher kam die gute Laune eigentlich, ausgerechnet am Abend einer bösen SPD-Schlappe? Es ist natürlich möglich, dass Steinbrück unmittelbar vor der Sendung ein besonders hübsches Geschenk von seiner Lieblingstante bekommen hatte und sich deshalb so freute. Das können die Fernsehzuschauer aber nicht wissen. Sie sind auf eigene Mutmaßungen angewiesen, wenn sie eine plausible Erklärung wollen, weshalb sich einer da plötzlich so verändert hat.

Es gibt durchaus Begründungen, die einem einfallen können. Zum Beispiel die: „Lieber Gott“, könnte Peer Steinbrück gebetet haben, „gib der SPD in Schleswig-Holstein ein Ergebnis, das die Stimmung für meinen eigenen Wahlkampf nicht komplett verhagelt, und das trotzdem schlecht genug ist, dass hinterher nicht alle nur mir die Schuld geben, wenn wir im Mai verlieren.“ – „Mein Sohn, das kann ich nicht. Ein solches Ergebnis gibt es nicht“, mag der liebe Gott geantwortet haben. „Streng dich ein bisschen an, du kannst alles“, dürfte der Ministerpräsident daraufhin gesagt haben. Und siehe – es gibt ein solches Ergebnis.

Da sage noch jemand, alle Leute würden sich vor der Kamera immer nur verstellen. Das ist gar nicht so einfach, wie allgemein angenommen wird. Nicht einmal für Schauspieler, wie die Jubiläums-Sonderausgabe der „Schwarzwaldklinik“ im ZDF offenbarte. Die musste man wahrlich nicht in voller Länge anschauen. Es war einfach nett, mal reinzuzappen. Dann konnte man schöne, etwas sentimentale Bemerkungen darüber machen, dass es ja unglaublich sei, wie sich die Darsteller in den letzten 20 Jahren verändert haben, und beruhigt weiterschalten.

So unglaublich war es aber gar nicht, sondern eben so wie im realen Leben: Die meisten Frauen haben sich ganz gut gehalten und sind ziemlich attraktiv geblieben, für die meisten Männer gilt das nicht. Pech. Es wäre aber nicht weiter erwähnenswert, wenn der Augenschein nicht so eindeutig dem hartnäckigen Klischee widerspräche, dass Frauen viel schneller altern als Männer und das zwar ungerecht sei, aber eben den natürlichen Gesetzmäßigkeiten des Lebens entspreche.

Von wegen. Es entsprach auch früher keinen natürlichen Gesetzmäßigkeiten, sondern war meist eine Folge von zu vielen Geburten in zu kurzer Zeit. Seit das in Deutschland nicht mehr so üblich ist, hat sich auch der Alterungsprozess verändert. Mir ist das bei der 20-jährigen Abiturfeier zum ersten Mal aufgefallen. Da betrat ich einen Raum, in dem viele mir unbekannte Herren mittleren Alters mit relativ wenig Haaren und relativ viel Bauch standen. Gerade wollte ich mich zurückziehen, als eine elegante, gepflegte Frau meinen Namen rief. Die erkannte ich sofort, ebenso wie alle anderen ehemaligen Klassenkameradinnen. Bei den meisten Jungen von damals musste der Abend viel älter werden, ehe die vertrauten Züge von einst allmählich wieder kenntlich wurden.

Manchmal spiegelt das Fernsehen eben doch keine Illusionen vor, sondern schlicht die Wirklichkeit wider. Man muss bloß hinschauen. Allerdings vielleicht nicht zu oft. Dass das ZDF nun gleich eine weitere Folge der „Schwarzwaldklinik“ plant, ist doch etwas übertrieben. Ein Klassentreffen braucht man schließlich auch nicht jedes Jahr.

Fragen zur Realität? kolumne@taz.de MORGEN: Kirsten Fuchs über KLEIDER