Faule Vögel

Irritationen im Tierreich: Amseln, Meisen und Spatzen fliegen kaum noch, sondern stolzieren auf der Straße umher. Und fressen zu viel. Schuld daran ist Hartz IV

Selbst zum Supermarkt musste der Herr Vogel früher unbedingt fliegen

Seit geraumer Zeit scheint die Natur zunehmend verrückt zu spielen. Nicht nur irgendwo im Indischen Ozean, sondern direkt vor unserer Haustür. Im Vergleich zu früher gehen hier nämlich auf einmal die Vögel extrem häufig zu Fuß. Immer mehr Vögel legen immer öfter immer längere Strecken per pedes zurück. So habe ich am Wochenende quasi stichprobenartig mehrere Britzer Vorgärten inspiziert und zahlreiche Amseln, Meisen und Spatzen bei ausgiebigen Spaziergängen ertappt.

Wenn sich ausnahmsweise doch einmal einer der Herrschaften zu einem Flug bequemte, dann flatterte er vielleicht ein paar Meter, mit spürbarem Widerwillen und nur, um anschließend umso besser weitermarschieren zu können. Am auffälligsten die Amseln: Einige waren offenbar schon derart geübt, dass ihr Gang ins majestätisch Schreitende lappte, eine Marotte, die auf den Betrachter arrogant und provozierend wirkt und obendrein den versierten Geher verrät. Und das bei Vögeln, die ja, man erinnert sich, noch vor nicht allzu langer Zeit überall rumgeflogen sind wie die Bekloppten. Die waren doch kaum zu bremsen: Selbst zum Supermarkt, und wenn der nur hundert Meter entfernt war, nicht zu Fuß, nein, scheißegal, da musste der Herr Vogel natürlich unbedingt fliegen – „American way of life“. Viele sind im Winter sogar in den Süden geflogen – die Füße haben die doch höchstens mal zum Landen benutzt oder um den Regenwürmern in den Arsch zu treten. Und heute? Kreuz und quer verlaufen unzählige Trampelpfade im Schnee.

Die meisten Vögel sind eindeutig zu dick geworden. Vor allem die Amseln. Auch das fällt auf. Die kommen einfach nicht mehr hoch. Sie fressen zu viel. Das liegt, wie Schiedsrichterskandal, Rückkehr der Syphilis und überhaupt alles andere auch, natürlich an Hartz IV. Es sind schlechte Zeiten für die Menschen auf der falschen Seite einer stetig weiter auseinander klaffenden Wohlstandsschere: Sie kaufen immer größere Familienpackungen von immer billigerem und ungenießbarerem Brot in Läden wie Penny oder Lidl, schaffen davon aber oft nur die Hälfte. Der Rest wird in die Vorgärten gekippt oder auf die Straße. Da freuen sich die dummen Vögel. Mit den Vögeln ist es wie mit der Börse: Der geht es umso besser, je schlechter es den Leuten geht.

Im Gegensatz zum asozialen Monstrum Börse, das nur Werte vernichtet, aber keine schafft, sind die Vögel freilich bloß unschuldige Handlanger. Sie sind ohne eigenes Wissen und Zutun zu Erfüllungsgehilfen der Broker geworden und haben letztlich gehörige Nachteile in Kauf zu nehmen: Durch die Fettleibigkeit hat sich ihr Infarktrisiko deutlich erhöht. Überdies wirkt der Vogel matt, lustlos und vögelt in der Folge weniger; immer häufiger bleiben die Nester leer. Und zu guter Letzt fragt die Katze den Vogel nicht, warum er versucht, im Schweinsgalopp vor ihr zu flüchten. Seine einzige Hoffnung bleibt, dass sie vor Lachen aus dem Tritt gerät oder mageres Fleisch bevorzugt.

Die Evolution frisst ihre Kinder: Bei Hartz V robbt der Vogel dann schon wie ein gefiederter kleiner Seeelefant auf Stummelflügeln über die Wiese und bei Hartz VI kann er nur noch den ganzen Tag dasitzen und rülpsen. Wenn er das übersteht, ohne auszusterben, geht es endlich bergauf: Hartz VII kommt und mit ihm ein Millionenheer an Menschen, die froh sind, für 50 Cent am Tag bewegungsunfähige Vögel herumzutragen. Irgendjemand muss das schließlich tun. ULI HANNEMANN