„Oft erziehen Frauen zum Ehrenmord“

Anstatt strengerer Gesetze gegen die Täter brauchen wir ein Umdenken der islamischen Mütter, sagt die Expertin der SPD, Lale Akgün. Denn diese Frauen haben das Denken ihrer Männer verinnerlicht und geben es an ihre Kinder weiter

taz: Frau Akgün, gestern gedachten in Berlin Politiker und Künstler einer erschossenen Türkin: Die 23-jährige Hatun Sürücü starb auf offener Straße, als Opfer eines mutmaßlichen Ehrenmords. Abseits von Betroffenheitsbekundungen: Was kann die Gesellschaft praktisch tun, um bedrohte Frauen zu schützen?

Lale Akgün: Wir denken falsch. Wir meinen: Die türkischen Männer, die sind die Täter, bei denen müssen wir ansetzen. Dabei sind es die Frauen, die ihre Söhne in diesem Denken erziehen. Oft sind sie die treibende Kraft beim Ehrenmord. Sie stacheln ihre Söhne gegen die Schwiegertochter auf.

Haben nicht Frauen, die selber unter ihren Männern litten, Verständnis für die Nöte ihrer Schicksalsgenossinnen?

Meine Erfahrung ist eine andere. Gerade ältere Frauen haben sich das Denken der Männer angeeignet. Sie betrachten die Welt aus Sicht des Mannes, haben seine Ehrbegriffe verinnerlicht.

Mit wohl meinenden Appellen wird man diese Frauen aber nicht erreichen. Brauchen wir ein schärferes Strafrecht?

Die Gesetze, die wir haben, sind ausreichend. Das Problem ist das Denken. Wir müssen mit Gesprächen oder Kampagnen die Schlüsselpersonen der türkischen Gemeinden erreichen. Imame, Moscheevereine, türkische Organisationen. Es reicht auch nicht, wenn die sich hinstellen und sagen: Wir ächten den Ehrenmord. Sie müssen sagen: Wir ächten es, wenn Frauen unterdrückt werden. Wenn Jungen meinen, sie müssten über die Tugend der Schwester wachen. Da liegt doch die Wurzel der Ehrenmorde: in der Vorstellung, dass Frauen kein Recht haben, selbst über ihr Leben zu entscheiden.

In vielen türkischen Familien aber gelten deutsche Vorstellungen von einem selbst bestimmten Leben gar nicht als Vorbild. Warum sollten die Menschen von dieser Position abweichen?

Wir müssen ihnen vermitteln: Selbstbestimmung ist kein deutscher Wert, sondern ein universales Menschenrecht. Überdies fordern wir nur ein, was vielerorts in der Türkei längst Alltag ist. Neulich etwa gab es in Ostanatolien so etwas wie eine Revolution: Die Frauen eines Dorfes wollten einen Ehrenmord nicht einfach hinnehmen. Sie haben die Leiche der Frau gewaschen und in Ehren bestattet. Das wäre früher undenkbar gewesen.

Noch aber sind die Verhältnisse hier anders. Wenn wir Mädchen nicht vor Ehrenmorden bewahren können, ist es dann überhaupt richtig, sie zu einem selbst bestimmten Leben zu ermutigen?

Auf jeden Fall. Der Weg ist dornig. Aber er lohnt. Türkinnen, die berufstätig sind, treten ihren Männern ganz anders gegenüber. Geld macht selbstbewusst und verschafft Respekt. Es gibt Zahlen, die Mut für die Zukunft machen. Etwa die, dass türkische Mädchen weit häufiger als die Jungs Gymnasien besuchen.

Die türkische Hausfrau, die kaum deutsch spricht, wird man so aber nicht erreichen. Ist sie für jeden Einfluss verloren?

Nein, denn es gibt ja zum Beispiel die Kindergärten. Ich habe das oft erlebt. Ein türkischer Junge sagt: Ich räume meine Schuhe nicht weg, ich bin doch ein Mann. Und seine Mutter stimmt zu. Hier muss die Erzieherin energisch eingreifen. Sinnvoll wäre es auch, überall an den Schulen Ethik oder Religionskunde als Pflichtfach einzuführen. Wir müssen jede Chance nutzen, Werte zu vermitteln. Und endlich dieses scheintolerante Denken abstreifen. Wenn ein Mann eine Frau unterdrückt, ist das kein Ausdruck einer anderen Kultur, sondern ein Rechtsbruch.

INTERVIEW: COSIMA SCHMITT