Schleusung, ganz legal

Teure Schutzpässe, Menschenhandel, Zwangsprostitution: Die rot-grüne Visumpolitik beflügelte das Schleusergeschäft

VON CHRISTIAN FÜLLER

Es war ziemlich am Ende der Befragung. Der Beamte des Bundeskriminalamtes (BKA) solle erklären, sagte ein Abgeordneter des Bundestages, was er denn mit der „professionellsten Form der legendierten Schleusung“ meine. Der Kriminalhauptkommissar hatte 2003 in einem Sonderbericht die Varianten kategorisiert, in denen der Menschenschmuggel von Ost- nach Westeuropa abläuft. Lars Rückheim antwortete knapp und klar, wie es seine Art ist: „Es war so möglich, sehr viele Personen sehr schnell über die Grenze zu bewegen.“ Rückheim hätte nur „legal“ zu ergänzen brauchen,und hätte die perfekte Bilanz der rot-grünen Einreisepolitik in den Jahren 2001 und 2002 geliefert.

Rückheim kommt ein wichtiges Verdienst zu. Gestern ist – nach vielen halboffiziellen Dokumenten und halbgaren Äußerungen der Verantwortlichen – erstmals klargestellt worden: Das Experiment einer, wie es Außenminister Joschka Fischer in einem Brief aus dem April 2000 schrieb, „transparenten und modernen“ Visumpraxis ist gescheitert – jedenfalls in der Variante, wie sie Rot-Grün seit dem Volmer-Erlass auf ausdrückliche Weisung Fischers zur offiziellen Politik machte.

Schauplatz der ersten autorisierten Information war gestern sinnigerweise der Europasaal des Bundestags. Dort traf sich der Visa-Untersuchungsausschuss, um den Verfasser der „Sonderauswertung Wostok“ anzuhören. In diesem Papier versuchten die Beamten des Bundeskriminalamts zusammenzutragen, was im Lande so an neuer Schleusungskriminalität auftrat. Anlass war die enorm gewachsene Zahl von Visa insbesondere in der Kiewer Botschaft, wo innerhalb zweier Jahre nicht mehr rund 150.000, sondern knapp 300.000 Sichtvermerke (2001) in die Pässe gestempelt wurden. Heute, fast zwei Jahre nachdem Rückheim mit dem Schreiben seines Berichts begann, lässt sich sagen: „Wostok“ ist eine Abrechnung mit der frühen rot-grünen Touristenpolitik.

„Dem Bundeskriminalamt“, so beginnt der Bericht, der der taz vorliegt, „liegen Erkenntnisse vor, dass OK-Gruppierungen (organisierte Kriminalität: d. Red.) Schleusernetzwerke installiert haben und kontrollieren“. Weiter heißt es, „die Logistik der Visaerschleichung – in Deutschland wie im Ausland – ist völlig in der Hand der Netzwerke“. Und wenige Seiten später: „Die dritte und höchste Stufe der legendierten Schleusung ist die Erlangung sowie Bereitstellung echter und überprüfbarer Identitätsdokumente und Aufenthaltserlaubnisse wie z. B. Visa für die Geschleusten.“ Das ist das Bittere für den Außen- und wohl auch für den Innenminister.

Denn die Schleuserbanden, die bereits vor dem rot-grünen Amtsantritt ihr Unwesen trieben, merkten schnell, welch hübsches neues Produkt ihnen Rot-Grün da serviert hatte: einen so genannten Reiseschutzpass, den sie selbst (zu Fantasiepreisen) an ihre Kunden verkaufen konnten – und deren Besitzer von Botschaftsangehörigen nur im Ausnahmefall noch näher kontrolliert werden durften. Dies geschah nicht mehr, weil es aus den Häusern Fischers und Schilys am 15. 10. 1999 so angewiesen worden war (siehe unten).

Die Einfallstore für die Schleuserbanden waren deutsche Botschaften und darunter vor allem die in Kiew. Im Jahr 2002 etwa stammten von 16.000 erschlichenen Visa für den Schengen-Raum, die der Bundesgrenzschutz aktenkundig machte, 15.500 aus deutschen Auslandsvertretungen. Gleichwohl versuchten die Banden, auch mit anderen westeuropäischen Botschaften zu arbeiten. Auch die Reichweite war groß. Rückheim berichtete, dass viele UkrainerInnen nach Portugal, Spanien und Italien weitertransportiert wurden. Das ist eine Erklärung dafür, warum die Kriminalitätsraten in Deutschland in keinem der Deliktbereiche wie Prostitution, Schwarzarbeit oder Menschenhandel aufällig anstiegen. Sowohl BGS als auch BKA bestätigen dies.

Diese Erkenntnis zählt zu den wenigen Lichtblicken, die sich gestern für die beiden wichtigsten rot-grünen Minister auftaten. Das Ausmaß der Schleusung ist nämlich nicht bezifferbar. Niemand kann genau sagen, wie viele junge Männer und Frauen aus der Ukraine auf den Strich oder den „Arbeiterstrich“ geschickt wurden. Auch lässt sich nicht behaupten, dass es keine Zusammenarbeit gegeben hätte. Sogar das BKA hatte in Kiew einen Verbindungsbeamten. Immer wieder wurden daher Schleuser enttarnt und wurde das Visumverfahren nachjustiert, bis schließlich Fischer im März 2003 den kontrollfreien Reiseschutzpass abschaffte. Dennoch: Seit gestern ist der Visa- ein Schleuser-Ausschuss – und er hat noch viel zu tun.