„Angst und blinder Fatalismus“

Noch in den letzten Monaten des Krieges richteten die Nazis in Köln massenhaft und öffentlich Widerständler hin. taz-Serie Teil III: Die Front rückt näher

VON KAROLA FINGS

„Wir hören jetzt die Geschütze der Front“, schreibt Rosalie S. am 18. September 1944 aus Köln, „die ganze Nacht hat das ferne Rollen angehalten“. Der Lärm der Schlacht um Aachen, den Rosalie S. beschreibt, ist der Vorbote der immer näher rückenden Front. Seit der Landung der Alliierten in der Normandie im Juni 1944 scheint das Ende des Krieges nur eine Frage von Wochen zu sein, doch es sollte noch bis zum 6. März 1945 dauern, bis die Amerikaner Köln erreichen. Während dieses langen Krieges im Westen der Stadt eskaliert die Situation in Köln zu einer „enthegten Bestialität“ (Bernd-A. Rusinek), bei der mit öffentlichen und halb öffentlichen, kaum geheim gehaltenen Hinrichtungen und Massakern Hunderte tatsächlicher oder vermeintlicher RegimegegnerInnen umgebracht werden.

Zu dem Zeitpunkt, als Rosalie S. ihren Brief schreibt, leben noch etwa 450.000 Menschen in der schwer zerstörten Stadt. Militärisch gesehen ist Köln nun eine rückwärtige Stellung im Kampfgebiet und die Bevölkerung wird mehr denn jemals zuvor aktiv in den Krieg einbezogen. Köln wird Auf- und Durchmarschgebiet immer neuer Truppen, südlich von Köln werden V1-Raketen abgeschossen, Hunderte Deutsche und Ausländer zu Schanzarbeiten am Westwall rekrutiert. Tausende Flüchtlinge aus dem Westen ziehen durch die Stadt.

Unverhohlen wird mit drakonischen Maßnahmen gedroht, falls man sich der Mobilisierung verweigert. „Die Not der Zeit zwingt uns alle zusammen“, heißt es im „Westdeutschen Beobachter“ am 16. September, und: „Der in voller Fahrt befindliche Zug des Krieges gestattet niemand mehr, auszusteigen, wann es ihm beliebt. Wir werden gemeinsam das Ziel der Kriegsreise erreichen oder wir werden einzeln untergehen und als Volk und Nation aus dem Buch des Lebens gestrichen werden.“ Rosalie S. kommentiert derartige Lektüre mit den Worten: „O es ist unglaublich, wie das Volk bearbeitet wird. (...) Rohheit und Brutalität sind Trumpf. Und Angst und blinder Fatalismus sollen herrschen.“

Gleichzeitig bomben die Alliierten den Weg für den Vormarsch ihrer Bodentruppen frei: Zwischen Ende September 1944 und Anfang März 1945 werden mehr Bomben auf Köln abgeworfen als in den ganzen fünf Kriegsjahren zuvor. Die Stadt leert sich in teils kontrollierten, teils unkontrollierten Wellen. Mitte November sind es noch rund 250.000, schon im Februar nur noch etwa die Hälfte, bis der Gauleiter Josef Grohé am 1. März die Evakuierung des linksrheinischen Kölns anordnet. Wie viele tatsächlich bei Kriegsende in den Trümmern dieser Stadthälfte hausen, ist heute nicht mehr eindeutig feststellbar; Schätzungen schwanken zwischen 10.000 und 40.000 Personen.

Die hohe Dunkelziffer in der Bevölkerungsstatistik ist nicht nur Ausdruck der zerstörten Infrastruktur und desolaten Bürokratie, sondern auch eines Kontrollverlustes, der im Sommer 1944 einsetzt. Mehrere hundert entflohene ZwangsarbeiterInnen, Deserteure der Wehrmacht und Oppositionelle halten sich in Kölns Trümmern versteckt und hoffen auf die baldige Eroberung der Stadt. Sie rauben, um ihr Überleben in der Illegalität zu sichern, und sie setzen sich mit der Waffe gegen Polizei- und NSDAP-Angehörige zur Wehr. Die Staatspolizei bildet Sonderkommandos und verhaftet mindestens 500 Personen, etwa die Hälfte davon Ausländer, darunter auch Angehörige der Widerstandsgruppen „Edelweißpiraten“ und „Nationalkomitee freies Deutschland“.

Diese Verhaftungen, die für die meisten mit Folter, Tod oder Deportation enden, sind begleitet von zum Teil spektakulären öffentlichen Gefechten in der Stadt. Zusammenfassend beschreibt der schweizerische Generalkonsul Franz-Rudolph von Weiss die Situation in Köln am 26. Januar 1945 mit den Worten: „Die physische, man muss sogar sagen: terroristische Monopolgewalt der Partei über die Bevölkerung besteht fast unangefochten, und wo sich – wie etwa in einzelnen Stadtteilen Kölns – Gegengewalt (...) organisiert hat, ist sie alsbald ausgerottet oder hat sich einstweilen wieder verzogen. Gestapo und Kriminalpolizei greifen dabei mit vollständiger Schonungslosigkeit durch, in Köln z.B. dadurch, dass verdächtiges Kellergelände, das den Gegengewalten als Unterschlupf dient (...) kurzerhand straßenweise miniert und gesprengt wird, dass Straßenzüge vermauert werden und Verdächtige oder Überführte auf öffentlichen Plätzen an den Galgen gehängt werden und zur Schaustellung tagelang aufgehängt bleiben.“

Die Erhängungen von elf Ausländern am 25. Oktober 1944 und von dreizehn Deutschen am 10. November 1944 in Köln-Ehrenfeld, auf die von Weiss sich hier bezieht, bildeten in der Tat den Auftakt zur Umwandlung des Stadtgebietes in ein offenes Terrain des Terrors. Der größte Schauplatz von Massenhinrichtungen ist die Gestapozentrale: Im Innenhof des EL-DE-Hauses werden zwischen August 1944 und Februar 1945 mindestens 437 Menschen erhängt. „Heute ist der 3.2., 40 Leute wurden gehängt. Wir haben schon 43 Tage gesessen, das Verhör geht zu Ende, jetzt sind wir mit dem Galgen an der Reihe“, ist noch heute in Zelle 1 zu lesen.

Es muss davon ausgegangen werden, dass etliche Kölnerinnen und Kölner Zeugen dieser Verbrechen sind. Viele Gebäude rund um das EL-DE-Haus, an der Elisenstraße, der Schwalbengasse und Auf dem Berlich, sind im Herbst 1944 von Bomben zerstört. Von Schutthaufen, von den Dächern oder aus den Fenstern noch intakter Häuser kann man die Hinrichtungen beobachten (siehe Kasten „Von einer Kölner Augenzeugin“). Einige NachbarInnen versorgen sich im Hof der Gestapo mit Wasser und sehen dort Misshandlungen oder die Vorbereitungen für Hinrichtungen. Auch kann man beobachten, wie Gefangene kolonnenweise aus dem Klingelpütz zur Hinrichtung ins EL-DE-Haus geführt werden.

Weitere Stätten des Terrors, wo im Herbst 1944, vor der Öffentlichkeit kaum noch verborgen, gedemütigt, gefoltert und gemordet wird, sind der Klingelpütz, vier KZ-Außenlager und mehrere „Arbeitserziehungslager“ der Gestapo. Das Gestapolager in der Messe ist 1944 Durchlaufstation für viele hundert Menschen, die nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler verhaftet werden, meist ehemalige KPD-, SPD- und Zentrumsangehörige, und letzte Station der als „Halbjuden“ verfolgten Menschen, bevor sie deportiert werden. Die letzten Häftlinge des Lagers im Fort V in Müngersdorf, einst Sammellager für die Deportationen der jüdischen Bevölkerung, werden auf einem brutalen Evakuierungsmarsch bis nach Hunswinkel getrieben.

Als die Amerikaner den Rhein erreichen und somit Front und Heimatfront deckungsgleich werden, geht das Morden im rechtsrheinischen Köln weiter. Wilde Erschießungen von Ausländern durch später nie identifizierte Parteiangehörige oder Heeresstreifen sind an der Tagesordnung. Bis in die letzten Kriegstage werden Deserteure hingerichtet, mindestens 20 ZwangsarbeiterInnen werden in einem Barackenlager im „Gremberger Wäldchen“ erschossen oder bei lebendigem Leibe verbrannt. Erst mit der Einnahme des rechtsrheinischen Kölns am 14. April 1945 ist das Morden beendet.

Zu den bis heute beunruhigenden Fragen zählt die, wie dieses Morden in einer ehemals zivilen Gesellschaft möglich war. Apathie und Angst, die Unsicherheit und Ambivalenz, die in der Mehrheitsbevölkerung in den letzten Kriegsmonaten vorherrschte, können dieses Phänomen nur unzureichend erklären. Selbst viele dem Regime gegenüber kritisch eingestellte Kölnerinnen und Kölner wollten oder konnten die Verbrechen zur Tatzeit nicht wahrnehmen (siehe Kasten „Aus einem Kölner Tagebuch“). Franz-Rudolph von Weiss schloss seine Schilderung vom 26. Januar 1945 mit dem deprimierten Hinweis, der „Trumpf, den die Partei durch ihre terroristische Monopolgewalt in Händen hat und offenbar bis zum Extrem und bis zum Letzten auszunützen entschlossen ist“, werde durch den „völligen Mangel an elementarer Zivilcourage, der auch im Westen für die Deutschen, als Masse gesehen, charakteristisch ist, beinahe sanktioniert“.

Die Autorin ist stellvertretende Direktorin des NS-Dokumentationszentrums und hat die ab dem 8. März 2005 im EL-DE-HAUS zu sehende Sonderausstellung „Zwischen den Fronten. Kölner Kriegserfahrungen 1939-1945“ konzipiert. Die Ausstellung geht bis zum 20. November 2005.