Alterung heilbar? Nein!

Der natürliche Alterungsprozess soll angeblich bei einer 87-Jährigen umgekehrt worden sein. Das findet jedenfalls die Pflegeversicherung und erkennt Pflegestufe II ab.

Bremen taz ■ „Mir geht das ganz schön unter die Haut“, sagt Rechtsanwältin Gudrun Winkelmann. Für ihre Mandantin klagt sie vor dem Sozialgericht gegen die Rückstufung von Pflegestufe II zu Pflegestufe I, die die Pflegeversicherung zum Juni letzten Jahres vorgenommen hat.

Seit 1997 war der 87-Jährigen Pflegestufe II zuerkannt – nach Einschätzung des Hausarztes hatte sich ihr Gesundheitszustand schon seit 1993 schwerwiegend verschlechtert, zurückführbar auf die normale Alterung: Arthrose, Verschleißerscheinungen, abnehmende Hör- und vor allem Sehkraft – nur ein „Wunderheiler“ könnte diese Symptome beseitigen: Dass eine solche Besserung eingetreten sei, behauptet aber der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) in seiner Einschätzung vom April. Dabei untersucht der medizinische Dienst nicht selbst, er fragt nur – und da bei der Befragung der Betroffenen keine ihrer Pflegekräfte anwesend war, hat er von der Schwerhörigen offenbar nicht die Antworten bekommen, die mehr als 47 Minuten täglicher Hilfe gerechtfertigt hätten.

Vielleicht sagte die alte Dame nicht, dass sie stets Hilfe braucht beim Aufstehen, Anziehen, bei der Grundpflege, beim Kochen, aber auch beim Verlassen der Wohnung, vermutet Anwältin Winkelmann. Sie hat die knappen Zeitvorgaben der Pflegestufe II verwendet (z.B. Aufstehen 1-2, Anziehen 8-10 Minuten), um einen tatsächlichen Pflegehilfenbedarf von über vier Stunden täglich zu berechnen – zuzüglich aller Hilfen zur Mobilität – vom Arztbesuch bis zum Einkaufen.

Die Anwältin ist betroffen: „Sie hat versucht, ohne die Hilfen klarzukommen – das Ergebnis war ein Selbstmordversuch.“ Seit das Versorgungsamt auch noch aus dem Schwerbehindertenausweis der 1917 geborenen Frau den Vermerk einer außergewöhnlichen Gehbehinderung gestrichen hat, schafft sie es nicht mal mehr zum Arzt, das Geld für ein Taxi kann sie von ihrer Rente nicht bestreiten, erklärt die Anwältin. Durch die Klage beim Sozialgericht will sie nun der Pflegekasse die drohende Heimunterbringung ersparen. Deren Kosten würden die bis Juni gezahlte Unterstützung von etwa 500 Euro, die der Mandantin sogar Lebensqualität ermöglichte, etwa um 3.000 Euro übersteigen.

Die Dauer des Gerichtsverfahrens findet die Spezialistin für Altenpflegerecht völlig unzumutbar. Da die Sozialgerichte maßlos überlastet seien, stehe sie nun vor dem Problem, wie man ihre Mandantin bis zum positiv prognostizierten Urteil mit dem Nötigsten versorgen könne. Sonst „muss sie entweder ihre Pflegekräfte bitten, sie umsonst zu versorgen, oder ihre Grundbedürfnisse können nicht gedeckt werden.“ mkr