Trug und Wahrheit

Andreas Maier schreibt sich mit „Kirillow“ in die erste Reihe der deutschen Gegenwartsliteratur

„Kirillow“ ist ein politischer Roman, der alle Möglichkeiten, politisch zu werden, ironisch zerlegt Andreas Maier erzählt von Menschen, die kämpfen wollen, aber er vermeidet Gewissheiten

VON JÖRG MAGENAU

Der Kober, das ist einer, der das Treppenhaus nie gekehrt hat. Er kam und ging, wann er wollte, sprach wenig, und manchmal waren die Läden vor seiner Wohnung tagelang geschlossen. Häufig hatte er Besuch von Mädchen, immer wieder andere, die auch bei ihm wohnten. Aber Wasser und Müll hat er trotzdem nur für einen bezahlt. Was soll man nun davon halten? Ungefähr so, in endlosen Schleifen, reden die Bewohner der Kellerstraße 17 in Frankfurt-Ginnheim über den Studenten Frank Kober, und wo Gerede ist, ist der Schriftsteller Andreas Maier in seinem Element. Meisterhaft hat er das in den beiden Dorf-Romanen „Wäldchestag“ und „Klausen“ vorgeführt, die von der Macht des Gerüchts und der Angst vor Fremdem und Unbekanntem handelten. Im Treppenhaus in Ginnheim ist das nicht anders. Auch hier tobt sich Kommunikation in einem geschlossenen Mikrokosmos aus.

Maier, 1967 im hessischen Bad Nauheim geboren, hat diese Szenerie seinem neuen Roman „Kirillow“ als Prolog vorangestellt und führt damit seine Arbeitsweise noch einmal demonstrativ vor: So wie Frank Kober vom Treppenhausgerede umsponnen wird, ohne dass man tatsächlich etwas über ihn erfährt, so umkreist Maier das Geschehen mit Worten, bis man nicht mehr weiß, ob sich dahinter tatsächlich etwas verbirgt oder ob die Wirklichkeit aus nichts anderem besteht als aus dieser festen, undurchdringlichen Verpackung aus Sprache. „Etcetera“ ist ein häufig gebrauchter Begriff, denn nur mit dieser Floskel entkommen die Redner den endlosen Schleifen der Wiederholung vielfach wiederholter und produzierter Gedanken. Die „Etceteras“ strukturieren die Prosa Andreas Maiers. „Die Welt“, heißt es einmal, „ist ein rhetorisches Gebilde, gemacht von Millionen und Millionen von Menschen.“ Die Welt, die für Maier bisher ein Dorf war, öffnet sich in „Kirillow“. Jetzt geht es ums große Ganze, oder, bescheidener formuliert: um Politik. Und am Ende stellt sich heraus, dass der Unterschied zwischen Dorf und Welt, so gesehen, nicht ins Gewicht fällt.

Stilistisch wurde die Sermonhaftigkeit Maiers immer wieder mit Thomas Bernhard verglichen. In „Kirillow“ emanzipiert er sich spürbar von Bernhard, über den er seine Dissertation verfasst hat, und schreibt sich endgültig in die vorderste Reihe der deutschen Gegenwartsliteratur. Das konjunktivische Sprechen in indirekter Rede ist sparsamer eingesetzt, die Sätze werden knapper, der allwissende Erzähler, der auch Gedanken und Gefühle protokolliert, wird selbstbewusster. Verwandt ist diese Prosa eher der von Thomas Meinecke, der den intellektuellen Diskurs erzählbar gemacht hat, indem er Redeweisen sampelt wie ein DJ seine Platten. So macht es auch Andreas Maier, und er verwirbelt all die angelesenen Theoriebrocken in den Gehirnen seiner Protagonisten, bis daraus eine diffuse Welterregung geworden ist. Das ist komisch und unterhaltsam, obwohl es sich doch zweifellos um eine Tragödie handelt.

Alles was ist, ist Geschwätz. Dennoch gibt es so etwas wie eine Handlung. Es passiert in diesem Buch sogar eine ganze Menge. Das Geschehen wird allerdings weniger vollbracht als herbeigeredet. Aber das, so würde Julian Nagel behaupten, ist auch egal. Julian steht im Mittelpunkt einer Gruppe junger Leute – Studenten, Straßenkämpfer, Spontis und Rumhänger. Als Sohn eines einflussreichen hessischen Landtagsabgeordneten genießt er eine gewisse Narrenfreiheit. Julian ist ein ziemlicher Kotzbrocken, ein penetranter Schwätzer, der aber viel Wahres sagt. Frank Kober, sein bewunderter, ein wenig älterer Antipode, ist dagegen der große Schweiger, der ruhende Pol inmitten all der hochgeschäumten Kommunikationsturbulenzen. Verbindendes Element zwischen den gegensätzlichen Freunden ist Julians Schwester Anja, die mit Kober eine alte, pflegebedürftige Dame betreut. Von der politischen Nervosität ihres aufgeputschten, sehr viel trinkenden Bruders hält sie sich fern. „Gar nichts machen ist das Einzige, was man tun kann“, lautet ihr Credo. Dabei ist sie die Einzige, die, indem sie der alten Frau Gerber hilft, konkret etwas tut. Diese Hilfe entzieht sich dem Gerede und entfaltet dadurch eine solche Attraktivität, dass bald alle jungen Leute der Gruppe als Besucher um Frau Gerbers Bett herumsitzen – auch wenn sie nicht wissen, was sie mit ihr reden sollen.

Der Roman besteht aus drei Kapiteln, die in drei dramatischen Ereignissen gipfeln: Im ersten Teil kommt es während eines Empfangs beim Landtagsabgeordneten Nagel zu einer Konfrontation zwischen den jungen Gesamtwelt-Rebellen und dem Establishment inklusive Ministerpräsident. Kober fügt sich demonstrativ eine tiefe Schnittwunde im Arm zu und verlässt blutend das Haus. Der zweite Teil gipfelt in einer Rede Julians, der den vorübergehend sprachlosen Freunden verkündet, es gebe nur eine Möglichkeit, sich der Verstrickung in die Totalität des Funktionierens zu entziehen: den Selbstmord. Das sei die einzige denkbare Freiheit, alles andere bedeute, mitzumachen. Seine große Sehnsucht ist es, eine Tat zu vollbringen, die sich eben nicht mehr mit Worten einholen lässt. Aber gerade deshalb, da kann man sicher sein, wird Julian sich nicht umbringen. Im dritten Kapitel schließlich reist die Gruppe nach Gorleben, um an den Protesten gegen den Castor-Transport teilzunehmen. Julian erlebt diese Reise vornehmlich als erotischen Rausch und vögelt in irgendwelchen Heuschobern herum, während draußen schon die Schlacht zwischen Demonstranten und Polizei beginnt. Sie endet mit einem tödlichen Unfall und dem Beleg, dass Reden und Denken eben doch Konsequenzen hat, wenn auch häufig andere als die intendierten.

Durch alle drei Teile zieht sich die Konfrontation der radikalen Studenten mit einer Gruppe russischdeutscher oder deutschrussischer Aussiedler. Mit den Russen befreundet zu sein gilt zunächst als schick. Das Fremde hat einen Sexappeal, der sich politisch darstellen lässt. Ein besonderer Reiz besteht darin, dass die Russen kein Deutsch können. Das Reden – und alles, was sich ereignet, ist ja primär Gerede –perlt an ihnen ab. Sie sind stumme Zeugen einer ihnen seltsam anmutenden Gesellschaft, die Frauen schauen vor allem großäugig zu, die Männer kopfschüttelnd.

Im Dorf ihrer Herkunft im hintersten Russland lebt ein gewisser Kirillow. Was man von ihm erfährt, sind nicht mehr als Gerüchte. Er ist die Leerstelle im Zentrum des Romans, um den die Gedanken der Protagonisten kreisen wie das Ginnheimer Treppenhausgerede um Frank Kober. Von Kirillow, der angeblich Kober ähnlich sieht, kursiert bald ein Manifest, ein so genanntes Traktat über den Weltzustand. Tenor: Das menschliche Streben nach Glückseligkeit ist der Grund allen Übels. Die Menschheit wird erst dann glücklich sein können, wenn sie aufhört nach Glück zu streben. Darauf lassen sich alle möglichen konsumkritischen und kapitalismuskritischen Theorien aufbauen, schließlich auch Julians Selbstmordthese. Die Figur Kirillow – auch darauf wird im Roman hingewiesen – stammt aus Dostojewskis „Dämonen“. Da ist er einer der jungen Männer um den finsteren Verführer Stavrogin und selbst ein Verfechter des programmatischen Selbstmords. Klickt man die im Roman angegebene Internetadresse www.kirillow.de an, bekommt man allerdings nicht das versprochene Traktat, sondern einen Auszug aus den „Dämonen“ – und die Homepage der Castorgegner aus dem Wendland.

Mit „Kirillow“ vollbringt Andreas Maier das Kunststück, einen politischen Roman zu schreiben, der alle Möglichkeiten, politisch zu werden, lustvoll ironisch zerlegt und der doch nichts Resignatives ausströmt. Politisch wird das Buch nicht durch die minutiöse und in ihrer schonungslosen Genauigkeit beeindruckende Schilderung der Castor-Demonstrationen, auch nicht dadurch, dass es die rettungslose Theatralik aller Widerstandsbemühungen und zugleich das Leiden an dieser Vergeblichkeit zeigt. Politik ist zu Antipolitik geworden. Die Ebene der täglichen Parteiauseinandersetzungen und der Parlamentsreden ist da vollkommen bedeutungslos. Wahrheit gibt es nicht, oder es gibt sie nur als Totalität des Geredes. Dieser Erkenntnis ist nur der Roman gewachsen, weil es nur hier möglich ist, der Festlegung auf Positionen oder auf ein stumpfsinniges Pro und Contra zu entgehen. Das macht den Roman zu einer politischen Kunstform.

Mit gleichgültigem Relativismus hat das nichts zu tun. Maier erzählt von Menschen, die kämpfen wollen, aber er vermeidet Gewissheiten und gibt stattdessen Versionen, Thesen, Vermutungen, Gerüchte und Gedanken, die immer provisorisch sind. Julian sagt das so: „Man weiß nie, was man weiß, und dem kann keiner gerecht werden, nie, nimmermehr auf Erden, auch kein Erzähler, denn das ist das Wesen unserer Geschichten. Man kann nichts einheitlich erzählen, und man kann alles überhaupt nur einheitlich erzählen. Alles Trug und alles Wahrheit!“ Aber das ist naturgemäß auch nur so ein Satz.

Andreas Maier: „Kirillow“, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005, 352 Seiten, 19,80 €