Auf Schritt und Tritt

STALKER Seit einem Jahr versucht die Beratungsstelle „Stop Stalking“ den Verfolgern zu helfen. Das soll die Opfer schützen

„Stalker nehmen die Realität völlig verzerrt wahr“

Stalkingforscher Jens Hoffmann

VON MARTINA JANNING

Sie lernen sich an der Uni kennen – und lieben. Doch das Glück währt nur kurz. Nach wenigen Monaten merkt die junge Studentin, dass Thomas W. (Name geändert) doch nicht der Richtige ist und beendet die Beziehung. Ein Schock für den Studenten. Er beginnt sie zu verfolgen, ruft ständig an, schickt SMS, macht ihr Geschenke. Schließlich zeigt seine Exfreundin ihn bei der Polizei an. Die Angst vor einer Verurteilung lässt Thomas W. innehalten. Er geht zur Berliner Stalker-Beratung.

„Stop Stalking“, so der Name der Beratungsstelle, existiert seit Ende April 2008. Sie ist die erste und bislang einzige Einrichtung dieser Art in Deutschland. Dabei ist der Bedarf gewaltig: „Rund zwölf Prozent der deutschen Bevölkerung werden im Leben einmal Opfer von Stalking“, berichtet Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD). Seit Ende März 2007 ist Stalking eine Straftat. Wer einen anderen hartnäckig verfolgt und belästigt, dem drohen seitdem bis zu drei Jahre Haft, in schweren Fällen sogar zehn Jahre. Laut Bundesjustizministerium haben Behörden allein in den ersten neun Monaten nach Inkrafttreten des sogenannten Anti-Stalking-Gesetzes bundesweit über 12.000 Ermittlungsverfahren eingeleitet. „Der wirksamste Opferschutz ist jedoch, wenn man die Täter dazu bringt, mit dem Nachstellen aufzuhören. Darin sehen wir unsere Aufgabe“, sagt der Leiter von Stop Stalking, Wolf Ortiz-Müller.

Der Psychologe arbeitet gemeinsam mit vier Kollegen in einem Büro in Berlin-Steglitz. Hier können Stalker sich per E-Mail, Telefon oder persönlich melden – auch anonym. Ist es dem Stalker wirklich ernst und er will mit den Belästigungen aufhören, schließt die Beratungsstelle mit ihm eine Vereinbarung unter seinem vollen Namen ab. Darin verpflichtet der Stalker sich, für ihn wichtige Themen zu besprechen. „Das kann der Umgang mit Verletzungen sein, das Aufarbeiten seiner Lebensgeschichte unter dem Fokus Stalking oder die Suche nach einem Therapieplatz. Es geht auch um die Fragen: Wie kann ich wieder selbstbestimmt leben und was tue ich, wenn ich drohe rückfällig zu werden?“, erklärt Ortiz-Müller. Eine Beratung umfasst drei bis fünfzehn Sitzungen und ist kostenlos. Die Mittel dafür stammen unter anderem aus Bußgeldern von Stalkern und Spenden.

Im ersten Jahr verzeichnete der Verein Stop Stalking bereits 530 Kontaktanfragen – meistens meldeten sich Männer. Beraten ließen sich 86 Stalker. „Viele kommen auf Anraten der Polizei, von Rechtsanwälten und Psychotherapeuten, oder weil ein Gericht es ihnen zur Auflage gemacht hat“, erklärt Ortiz-Müller. Oder weil sie wie Thomas W. eine Strafe fürchten und Angst haben, dass ihre Verfehlungen publik werden.

Bloß wenige finden ohne äußeren Druck den Weg in die Beratungsstelle. Denn das Hauptproblem der Stalker: Sie sehen sich selbst als Opfer. „Sie fühlen sich verletzt, viele sind gekränkt“, sagt der Psychologe. Die knifflige Kunst von Beratern und Therapeuten besteht darin, überhaupt ein Bewusstsein für ihr Verhalten und das Stalking-Opfer zu erzeugen.

Eine schwierige Aufgabe. Denn „Stalker nehmen die Realität völlig verzerrt wahr“, urteilt der Stalkingforscher Jens Hoffmann von der TU Darmstadt. In einer Untersuchung, bei der Hoffmann und seine Kollegen knapp 100 Stalker befragten, begründeten 42 Prozent ihre Beharrlichkeit damit, dass sie und der Expartner schicksalhaft für einander bestimmt seien, 32 Prozent sagten, dass sie für das Opfer sorgen müssten, 31 Prozent fühlten sich ungerecht behandelt. Nach Einschätzung des Psychologen stecken hinter solchen Ansichten oft massive Bindungskonflikte. Sie liefen ihr Leben lang hinter Zuneigung her, könnten Trennungen nicht verarbeiten.

Die Erfahrungen von „Stop Stalking“ spiegeln dies wider: Mehr als die Hälfte der Täter, die sich an die Beratungsstelle wenden, verfolgen ihre ehemaligen Partnerinnen – so wie Thomas W. Andere bedrängten Arbeitskolleginnen oder Nachbarinnen, berichtet Ortiz-Müller. Stalking entwickele Suchtcharakter, beobachtet der Leiter der Beratungsstelle. Das gesamte Denken und Fühlen kreist zwanghaft nur um die eine Person. Das ist eine Belastung, die an den Tätern nicht spurlos vorbeigeht. Sechzig Prozent der Stalker sind oft depressiv, 50 Prozent leiden unter Schlafstörungen, 41 Prozent unter Nervosität und 38 Prozent unter Angst, ergab die Darmstädter Studie. Ein Weg aus dem Zwang zum Nachstellen könne daher sein, dem Täter aufzuzeigen, wie sehr sein Verhalten sein Leben beeinträchtigt, sagt Hoffmann. „Stalker sind ja todunglückliche Menschen und keine Monster.“

Thomas W. hat es schließlich geschafft, nicht mehr zu stalken. „Es war mühsam“, erinnert sich Berater Ortiz-Müller. „Er wurde nicht vom Saulus zum Paulus. Erst als er eine andere Frau kennenlernte, konnte er ganz von seiner Exfreundin ablassen.“

www.stop-stalking-berlin.de