Werder unser, das du bist in Bremen

betr.: „Vom Fußball bis zur Hochkultur“, Psychologentagung zum Thema Werder Bremen, taz bremen v. 19.02.05

Es geht um die wichtigste Nebensache der Welt. Und bevor ich darüber schreibe, möchte ich meinen subjektiven Standpunkt verorten: Als Kind trug ich eine Brille, durch die ich eher weniger als mehr sehen konnte, außerdem habe ich geschielt und deshalb ist räumliches Sehen nie mein Ding gewesen, und ich war auch schon damals auf einem Ohr taub, was zur Folge hatte, dass mir auch die räumliche Hörorientierung abgeht. So gesehen bin ich ein zweidimensionaler Mensch.

Für den Fußball war ich daher auf der Straße und in der Klassenmannschaft wenig tauglich. Daher reduzierte sich mein Einsatz eher auf den linken oder rechten Torpfosten. So nannte ich selber meine Verteidigerstellung. (...) Die Kumpel tauschten Fußballbilder, oder man spielte so eine Art Marmelspiel damit. Mir sagten die jungen Männer auf den bunten Bildern nichts. Ich weiß nicht einmal die Namen der damals aktuellen Fußballspieler. Ich kann mich aber auch nicht erinnern, dass irgendeinen meiner Freunde das gestört hat. Mein Vater interessierte sich aus Gründen, die ich nie ermitteln konnte, nicht für Fußball. Niemand schleppte mich ins Stadion oder schenkte mir Fußballschuhe zum Geburtstag. (...)

Irgendwann in den sechziger Jahren nahmen mich meine Freunde mal zu einem wichtigen Fußballspiel ins Weserstadion mit. Werder spielte gegen Köln. Das Spiel endete 0:0. Ich erinnere mich, dass ich mir wie ein Marsmensch vorkam. Aber ich spürte auch um mich herum nichts von dem angeblich so packenden Fußballfieber. Es schien alles irgendwie belanglos. Ich hatte mir das aufregender vorgestellt. Einmal brüllte ich an der falschen Stelle und erntete verständnislose Blicke. Das war’s.

Nein, ich war kein Fußballfeind, vielleicht eher ein Fußballmuffel, oder besser gesagt: Ich konnte dem Ganzen nichts abgewinnen. Und ich hatte auch den Eindruck, dass Fußball gar nicht das war, was es mir vormachen wollte. (...)

Und jetzt im Lehrerzimmer: Drei Kollegen in meinem Alter. Das Fußballspiel Werder gegen Lyon – Werder hat verloren, aber wem sag ich das – wird diskutiert. Man hat es in der Kneipe gesehen. Die Plätze hatte man schon vorbestellt. Und Aaron Hunt hat gut gefallen, so wie der drauf los gespielt hat. Kolleginnen gesellen sich dazu. Von den pinkelnden Horden rund ums Stadion ist die Rede. Die Weser: Ein Urinal zwischen Becks und Stadion, das ist die Quintessenz von Werder Bremen. (...)

Wen oder was himmeln die Fans ans? Ailton? Ein Fußballgott? Das Werderemblem? Ein grünes W auf weißen Grund: Die Nationalflagge von Bremen. Sind Sie auch Werderfan, fragen mich die Schüler neugierig. Eine indiskrete Frage? Ich bleibe vage. In der Oberstufe habe ich mich als Ungläubiger geoutet. Werder unser, das du bist in Bremen. Du bist ja gar kein Werderfan, argwöhnt ein Jahreskartenbesitzer (Fünftklässler) gegenüber einem Mitschüler. Was muss man tun, um in die Fangemeinde aufgenommen zu werden? Woher der Argwohn? Du bist keiner von uns! Du kannst uns nichts vormachen! Der andere zappelt (...)

„Beim Senat“, plaudert Willi Lemke – es gibt nur ein’ williläääämke! –, „wird vor der Sitzung erst einmal 5 bis 10 Minuten über Werder geredet, bevor man auf die wichtigen Sachen kommt und wo Bremen doch so tief in der Krise steckt“. Wie im Lehrerzimmer denke ich! Helm ab zum Gebet und dann ran an den Feind!

Dass wieder Gottesdienst ist, merke ich an den vielen Polizeiwagen und dann an den grölenden Bierflaschen- und Schalträgern. Sie marschieren durch die Stadt wie marodierende Söldnerbanden und machen mir Angst, oder sind sie harmlos? (...)

In meiner Kindheit hatten wir immer so ein bis zwei Katholiken in der Klasse. Die wurden akzeptiert aber auch immer ungläubig angestaunt. Keine Konfirmation?! Heute ist man als Bremer gleich wess’ Geschlechts, Rasse oder Herkunft und unabhängig von Geldbeutel oder Bildung bekennender Werderfan. Man hat eine Saisonkarte und weiß Bescheid. Man gehört dazu. Ein Volk, eine Stadt, ein Fußball! Toooooor!

Der 8. Mai 2004 wird wahrscheinlich, wenn der Fußballmanager Willi Lemke, der jetzt Bildungssenator ist, Bürgermeister wird, zum Bremer Nationalfeiertag ausgerufen. Statt Buß- und Bettag. Der Dom wird grünweiß gedeckt und Werder wird stärkste Fraktion in der Bürgerschaft. Freie Fußballstadt Bremen.

Ich war am 8. Mai in Bremen. Eine Stadt im Ausnahmezustand. Man war bei einem bewegenden, einmaligen Ereignis dabei gewesen. Bremer türkischer und russischer Abstammung fahren mit alten Golfs und BMWs Fahnen schwenkend durch das Viertel. Auf dem Domshof drängen sich die Menschen vor der Großbildleinwand. Man war dabei gewesen. Ein heiliger Moment: Das kleine Bremen hat den Riesen Bayern geschlagen. Seid umschlungen Millionen!

Kleine Ballmaschinenmännchen haben wie Gladiatoren der Postmoderne ein rundes Leder in ein Holztor geschossen. Was für ein heiliger Moment, was für ein Glücksgefühl. Toooor! Tooor! Tooor! Ailton spielt jetzt bei Schalke. JOACHIM PAETOW, Bremen