INES KAPPERT ÜBER FINNLANDVERGLEICHE MACHEN NUR SINN, WENN SIE DIFFERENZEN AUSARBEITEN. ODER?
: Ein Ausflug nach Estland

Ist man Tourist in Helsinki, dann liegt ein Tagesausflug nach der nur 80 Kilometer südlich gelegenen ehemaligen Hansestadt Tallinn nahe. Und ist man Finne, bietet sich die Reise auf der Fähre gleichfalls an, denn die Alkoholpreise liegen im Baltikum deutlich niedriger. Also auf ins Mittelalterparadies (Dom und Rathaus stammen aus dem 13. Jahrhundert)! Ich liebe ohnehin diese riesigen Fähren, warum auch immer.

Die Einfahrt in den Hafen eröffnet einen ersten romantischen Ausblick auf altertümliche Kirchtürme. Freudig passiere ich die dicke, Unesco-geschützte Stadtmauer und bin unversehens von Bundfaltenhosen und beigefarbenen Blousonjacken umgeben, wie auch Ahmahdinedschad sie gerne trägt: Deutsche Rentner, so weit das Auge reicht.

Verschreckt schlage ich den Weg zum Okkupationsmuseum ein, das ein wenig abseits vom Stadtzentrum liegt. Im 2003 eröffneten Museum bin ich allein. Der kleine, moderne Glasbau beherbergt Fundstücke aus „der schwierigen Zeit der Besatzung“, wie es im Führer heißt. Die Nationalsozialisten besetzen Estland zwischen 1941 und 1944 , dann übernahm die Sowjetunion die Herrschaft. In der Mitte des Raums steht eine Skulptur. Zwei aus schwarzem Eisen gegossene Schienenpaare, die über einen zweigeteilten etwa zwei Meter hohen Torbogen miteinander verbunden sind. Über dem linken Gleis prangt das Hakenkreuz, über dem rechten der rote Stern. Die Totalitarismusthese zum Anfassen, denke ich mir. Na, prima.

Während des Studiums hatte man uns wieder und wieder die Überzeugung des berühmten Literaturwissenschaftlers Péter Szondis nahegebracht: Vergleiche machen nur Sinn, wenn sie dazu dienen, Differenzen herauszuarbeiten. Das Anliegen der hier begonnenen Geschichtsaufarbeitung ist ein anderes.

Die Gründer des auf Privatinitiative hin entstandenen Museums erklären: „Wir möchten dazu beitragen, eine Identität und ein nationales Bewusstsein zu formen und unserer kleinen Nation die Werte eines unabhängigen Staates lehren.“ Weswegen die sie leitenden Fragen auch lauten: „Wer sind unsere Helden? Wer sind unsere Freunde? Wer sind unsere Feinde?“

Ich komme mit der ausnehmend freundlichen und etwa fünfzigjährigen Kassiererin ins Gespräch. Was ihr das Schienen-Tor sagen würde, frage ich sie. „Ob Nazismus oder Sowjetismus – das ist alles gleich.“ Diese Antwort hat sie schon öfter gegeben. „Gar kein Unterschied?“, setze ich nach. Doch. Sie kritzelt auf einen Zettel eine kleine Tabelle. Die linke Spalte ist mit Nazi überschrieben, die rechte mit SU: links trägt sie die Ziffer „698 deads“ ein, rechts „250.000 deads“. Die Deutschen waren besser für uns, sagt sie. Meine Augenbrauen wandern nach oben. Für sie ist das Gespräch jetzt beendet.

Am Abend treffe ich einen befreundeten Filmemacher. „Willst du in die Altstadt? Ich würde dich ja lieber in einen Künstlerclub mitnehmen.“ Klar, gerne. Wir laufen ein wenig, er erklärt mir einige wirklich schöne Häuser aus dem 16. Jahrhundert. Dann zückt er eine Plastikkarte und öffnet mit ihr die Eingangstür eines Hauses, das sicher auch schon 400 Jahre steht. Wir laufen in den ersten Stock: Eine ganz normale, angenehme Kneipe. „Aber ohne Touristen“, er grinst. „Muss auch mal sein.“

INES KAPPERTFINNLAND

Lieben Sie diese riesigen Fähren? kolumne@taz.de Morgen: Josef Winkler über die ZEITSCHLEIFE