Der Mann mit den vielen Zungen

Mit einem siebten Sinn für Interessen und Stimmungen passt sich Barroso der Umgebung anEr verkauft sich perfekt, doch sucht man bislang unter der ansprechenden Verpackung den Inhalt

AUS BRÜSSEL DANIELA WEINGÄRTNER

Manuel Barrosos Auftritt vor dem Europäischen Parlament am Montag letzter Woche war wie immer makellos. Mit ein paar einleitenden Worten begrüßte er das hohe Haus auf Portugiesisch. Dann lobte er den Erfolg der Regierung Zapatero beim Verfassungsreferendum auf Spanisch. Um sein wirtschaftspolitisches Programm zu skizzieren, wechselte er ins Englische und machte dabei mit viel neoliberalem Vokabular wieder einmal seinem Spitznamen Baby-Blair alle Ehre, ohne die sozialen und ökologischen Empfindlichkeiten seiner Zuhörer außer Acht zu lassen. Die Millenniumsziele schließlich und den Kampf gegen Armut in Afrika würdigte er – comme il faut – in französischer Sprache.

Da wurde wieder einmal deutlich, dass auch Barrosos zweiter Spitzname treffend ist, den Daniel Cohn-Bendit ihm nach dem ersten Auftritt vor dem EU-Parlament verpasst hatte: Chamäleon. Mit einem siebten Sinn für Interessen und Stimmungen passt sich der portugiesische Politiker seiner Umgebung an, schlüpft in die Haut seiner Gesprächspartner und vermittelt ihnen das Gefühl, einer von ihnen zu sein.

Sich wie ein Chamäleon zu verhalten, gilt allgemein als wenig schmeichelhafte Charakterisierung. Sie zeugt von mangelndem Rückgrat und riecht nach Opportunismus. Für Barrosos derzeitiges politisches Geschäft könnte sich diese Fähigkeit aber als durchaus zielführend erweisen. Er muss in Absprache mit einem unübersichtlich gewordenen Ministerrat agieren und sich Rückendeckung von einem derzeit ebenfalls unberechenbaren neuen Parlament holen. Da kann Geschmeidigkeit ein gutes Mittel sein, um sich Zustimmung zu sichern. Die Frage ist nur, ob diese Taktik tatsächlich einem politischen Ziel dient – und wenn ja, welchem.

Den Mitarbeitern im Kommissionsapparat ist derzeit kein offenes Wort über ihren neuen Chef zu entlocken. Sie wissen zwar auch noch nicht genau, wo er hinwill. Doch haben sie rasch gemerkt, dass kein freundlich-zerstreuter älterer Professor mehr den Laden lenkt. In Romano Prodis Amtszeit tröpfelten fast jede Woche pikante Details, abfällige Kommentare und nicht abgesegnete Papiere in die Öffentlichkeit. Oft genug stellte der schusselige Italiener sich auch selbst ein Bein, wenn er in die Mikrofone sprach, ohne sich vorher die politischen Folgewirkungen überlegt zu haben. Manuel Barroso, das kann man nach hundert Tagen sagen, hat seinen Laden fester im Griff.

Er handelt nicht spontan, sondern hat seine Öffentlichkeitswirkung stets im Blick. Ein echter Kommunikationsprofi. Das ist manchen Parteifreunden suspekt – „Groß im Ankündigen, schwach im Durchsetzen“, beschreibt es CSU-Mitglied Markus Ferber gegenüber dem Focus. Andere finden es wohltuend – auch politische Gegner. „Ich bin geprägt von der Santer- und von der Prodi-Kommission“, sagt die sozialdemokratische Verbraucherexpertin Dagmar Roth-Behrendt. „Bei Barroso verstehe ich wenigstens, was er will. Mit seiner Sprache erreicht er die Leute.“ Und ihr Fraktionschef Martin Schulz meint: „Als Person ist er mir sympathisch. Offen und gewinnend, charmant und weltläufig.“ Und Daniel Cohn-Bendit sagt: „In seiner Sprache, Geste und Mimik ist er ein Europäer, keine Frage. Man merkt, dass er gelernt hat, sich auf europäischer Ebene gut zu verkaufen.“

Im europäischen Milieu, wo überall sprachliche und kulturelle Fallstricke lauern, ist solches Lob nicht zu unterschätzen. Dass Prodi die Kunst nicht beherrschte, war nach hundert Tagen allen Beobachtern klar. Bis zum Ende seiner Amtszeit drang man nicht dazu vor, sein politisches Konzept zu bewerten, weil er fünf Jahre lang nicht vermitteln konnte, woraus sein Konzept bestand.

Barroso dagegen lässt an seiner politischen Grundüberzeugung keine Zweifel aufkommen. Zwar witzelt Martin Schulz, der Kommissionspräsident bewege sich am Rond Point Schuman, dem Mittelpunkt des Brüsseler EU-Viertels, unendlich im Kreisverkehr und finde die Ausfahrt nicht. „Fahren Sie in Richtung der sozialdemokratischen Vorschläge!“, rief ihm der Chef der Sozialisten im Europaparlament zu. Doch er weiß so gut wie alle anderen, die Barrosos erste Schritte verfolgt haben, dass der Portugiese diesen Abzweig nicht benutzen wird. In vielen Zungen und in mehrfarbiger Verpackung buchstabiert er immer nur zwei Worte: „mehr Markt“.

Auch das Fünfjahresprogramm, das er Anfang Januar vorstellte, trägt seine neoliberale Handschrift, ebenso wie die Halbzeitbilanz zum Wirtschaftswachstum (Lissabon-Prozess) eine Woche später. Den großen Rahmen also hat Barroso abgesteckt. Was aber verrät das Kleingedruckte? Da fällt die Hundert-Tage-Bilanz mager aus. Außer Grundsatzpapieren hat die Barroso-Kommission bislang wenig zustande gebracht. Zu konkreten Gesetzesprojekten wie Dienstleistungsrichtlinie, Softwarepatenten oder Chemierichtlinie äußern sich Kommissionssprecher zögernd und zurückhaltend.

Betrachtet man die Sache statistisch, hat die Kommission Barroso im ersten Monat ihrer Amtszeit zwar ebenso viele Meldungen produziert wie ihre Vorgänger vor fünf Jahren im September 1999. Romano Prodi stattete damals Auschwitz einen symbolischen Besuch ab. Sein neues Team befasste sich mit dem Sonntagsfahrverbot, der Buchpreisbindung, dem Lärmschutzstreit mit den USA und machte sich Gedanken über eine europäische Lebensmittelbehörde.

Die neue Kommission verdankt ihre Medienpräsenz dagegen im ersten Arbeitsmonat vor allem dem Tsunami und der Rührigkeit von Entwicklungskommissar Louis Michel. Er setzt jedes Mal eine Pressekonferenz an, wenn er dem Kongo ein paar Millionen schenkt. Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner, die nicht im Schatten des Belgiers stehen will, sucht ebenfalls oft und gern die Öffentlichkeit. Dem außenpolitischen Profil der neuen Kommission schadet das mehr, als es nutzt. Der Chef lässt sich auch außenpolitisch bislang nichts Konkreteres entlocken, als „Europa braucht die USA, und die Amerikaner brauchen Europa“. Da bleiben viele Fragen offen.

So ergibt der Vergleich der ersten hundert Tage von Barroso mit denen Prodis eine gemischte Bilanz. Dem Italiener traute man zu, eine Vision von Europa im Herzen zu haben – doch vermitteln konnte er sie leider nicht. Der Portugiese verkauft sich perfekt, doch sucht man bislang unter der ansprechenden Verpackung den Inhalt.

Der Fairness halber muss aber festgestellt werden, dass Barroso unter viel schwierigeren Bedingungen gestartet ist als sein Vorgänger. Das Stigma, der Verlegenheitskandidat der Regierungschefs zu sein, ist ein enormes Handikap. Es bringt den Kommissionspräsidenten in große Abhängigkeit vom Ministerrat und schränkt seine Handlungsfähigkeit ein. Das führte dazu, dass bereits seine erste Begegnung mit dem Europaparlament im Desaster endete. Denn Barroso musste dort ein Team präsentieren, das ihm ohne Wenn und Aber von den Regierungen diktiert worden war. Den im Parlament durchgefallenen italienischen Kandidaten Rocco Buttiglione konnte er erst zurückziehen, als Silvio Berlusconi ihm das erlaubte.

Mehr politischen Spielraum hätte Barroso mittlerweile gewinnen können, wenn er das Parlament für sich begeistert hätte. Doch die Linken und Grünen misstrauen seinen sozialen und ökologischen Beteuerungen und sehen überall die neoliberale Handschrift durchschimmern. „Ein charmanter Kannibale“ – diesen dritten Ehrentitel verlieh Daniel Cohn-Bendits nach Barrosos jüngstem Auftritt im EU-Parlament.

Den Konservativen dagegen ist ihr Parteifreund nicht eindeutig genug. Sie waren bereits verärgert, als Barroso sich von Buttigliones katholischen Sprüchen vorsichtig distanzierte. Sie sind nun enttäuscht, da er auf Warnsignale linker Regierungen und linker Parlamentsabgeordneter ständig mit Kurskorrekturen reagiert. Doch das Mimikry hat eben seine Grenzen. Selbst das perfekte Chamäleon kann nicht alle Farben seiner Umgebung gleichzeitig annehmen.