König Ohneland I.

Als das Krisenteam hungrig wurde, merkte es, dass die Behördenkantine über die Feiertage geschlossen hatte

AUS BONN ASTRID GEISLER

Wer sich auf den Weg macht zu Christoph Unger, darf Außergewöhnliches erwarten. Dieser Mann gehört jetzt dazu. Er ist aufgestiegen in den Zirkel jener, auf die wir bauen sollen, wenn es hart kommt. Oder noch härter. Pockenanschläge, Atomunfälle, Erdbeben, Flutwellen: Unger soll das Schlimmste abwenden. Der Bundesinnenminister hat ihn persönlich auserkoren, „eine der wichtigsten Säulen im Sicherheitskonzept des Bundes“ zu übernehmen – eine neue Zentrale für Katastrophenschutz. Und nicht nur das. Otto Schily, von Untergebenen als Meister der Zornesausbrüche gefürchtet, ließ sich von Unger zu einer Ausnahmeaktion verleiten: Zur offiziellen Amtseinführung Mitte Januar lobte er den Neuen öffentlich, verkündete, Unger habe die Feuerprobe schon bestanden, gleich beim ersten Kriseneinsatz nach dem Tsunami. Auf solche Zuckerle dieses Ministers warten andere seit Jahren.

Und dann steht man vor dem Prestigeprojekt. Hier wirkt er, Schilys gerühmter Neuling. Ein Blick ins Notizbuch, doch, die Adresse stimmt. Ein 70er-Jahre-Bau zwischen Bonn-Muffendorf und Bonn-Pennenfeld, wo die Stadt den Charme eines Beamtenwitwenkränzchens hat. Christoph Unger, 46 Jahre alt, Typ Kriminalkommissar mit Sportlerstatur, breitem Schnauzbart und furchiger Miene, holt den Besuch persönlich in der Eingangshalle ab. Er schreitet nicht die Treppe hinab, wie man es erwarten könnte vom Präsidenten einer obersten Bundesbehörde. Der Chef des „Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe“ nimmt die Stufen, als trainiere er für Rettungseinsätze im brennenden Hochhaus. Zack, zack, zack, zack. Eine kurze Begrüßung, dann hechtet man hinter ihm her, hinauf in sein Büro, die Kommandozentrale des neuen „BBK“.

Ein kahler Raum, leere Regalwände, ein Schreibtisch mit Computer, ein Konferenztisch. Würde nicht der Bundespräsident staatstragend von der Wand blicken, dann könnte hier auch das örtliche Katasteramt sitzen. Durch das Haus zieht der süßliche Geruch von Bratensoße und Kraut. Trachtenpuppen und Wimpel stehen in Schaukästen auf dem Flur herum. Die Frage liegt auf der Hand: Was macht er bloß hier, der neue Chef-Katastrophenschützer?

Vermutlich fragt Unger sich das auch dann und wann. Aber darüber reden? Undenkbar. Unger jammert nicht, er protzt nicht. Rutscht ihm mal eine persönlichere Anekdote heraus, bittet er umgehend, man möge das doch lieber vergessen. Als wäre alles Private irgendwie peinlich. Unger ist ein ziemlich nüchterner Typ. Einer, der über seine Erlebnisse als Katastrophenschützer während des Elbehochwassers ganz selbstverständlich im selben sachlichen Ton berichtet wie über die Arbeitszeiten seiner Mitarbeiter.

Das ist die eine Erklärung, warum der neue Vorzeigekatastrophenschützer so vorsichtig spricht. Es gibt auch eine andere, eine, die er sofort bestreiten würde: Kaum einer in diesem Land muss die nächste Großkatastrophe so fürchten wie Unger. Warum? Egal, wen man fragt: Wissenschaftler, Weggefährten, ehemalige Gegner aus der niedersächsischen Opposition – alle loben Unger als Juristen mit dem idealen Erfahrungsschatz und den besten Eigenschaften für den neuen Posten. Doch sie sagen auch: Der perfekte Mann ist auf eine ziemlich unperfekte Stelle geraten.

Unger ist Bundesbeamter. Das weckt, vorsichtig formuliert, Argwohn. Denn Katastrophenschutz ist in Deutschland traditionell Ländersache. So sitzt nicht nur in Berlin ein Bundesinnenminister, der jedes Wort des Neuen überwacht. Auch in 16 Bundesländern, 323 Kreisen und 117 Kreisfreien Städten blicken Fachleute skeptisch auf das, was sich in Ungers Behörde tut. Wäre Christoph Unger als Präsident des neuen Katastrophenschutzamtes ein mächtiger Mann, es könnte ihm egal sein. Doch Ungers Posten klingt nur nach viel.

Er hat zwar 300 Mitarbeiter unter sich. Aber seine Behörde kann längst nicht, was sie können sollte. Bis vor kurzem hieß das Haus noch Zivilschutz-Bundesamt, lag seit der Wende im Behördenkoma. Unger hat sein Handy immer an, auch nachts, falls das Lagezentrum den Ernstfall melden will. Doch im Ernstfall hätte er selbst weniger zu melden als der Landrat von nebenan.

So gesehen war die Tsunami-Hilfe eine leichte Bewährungsprobe für sein Amt: In Asien können die deutschen Bundesländer nicht auf Kompetenzen pochen.

In anderen Fällen tun sie das schon. So scheiterte Innenminister Schily mit seinem ehrgeizigen Plan für das neue Katastrophenschutzamt an Machtstreitereien mit den Ländern in der Föderalismuskommission. Ursprünglich sollte das neue Amt eine entscheidende Schwachstelle beheben: den Wirrwarr der Zuständigkeiten. Denn hält sich eine Katastrophe nicht artig an die Landesgrenzen zwischen Hessen und Rheinland-Pfalz oder zwischen Bayern und Sachsen, bedroht sie gar die ganze Republik, dann warnen Experten, dann ist Chaos angesagt. Soll dieser Deich gesprengt werden oder ein anderer? Muss Pockenalarm ausgerufen werden oder doch nicht? Es fehlt eine Stelle, die koordiniert, die notfalls schnell entscheidet, führt.

Aber Unger darf diese Lücke bisher nicht füllen. Er darf weder entscheiden noch anweisen, sondern nur seine Hilfe anbieten. Dass sich das in absehbarer Zeit ändert, bezweifeln Fachleute. Deutschlands renommiertester Katastrophenschutzforscher, Wolf Dombrowsky, sagt zum Beispiel: „Mit gleicher Wahrscheinlichkeit könnte ich Papst werden.“

Unger schweigt zu der politischen Debatte. Katastropheneinsätze, erläutert der Spitzenbeamte, leite vorerst weiter der jeweilige „HVB“, also der „Hauptverwaltungsbeamte vor Ort“. Seine Behörde stehe Bund und Ländern dagegen „als Dienstleister zur Verfügung“. Man lauscht: Ein frustrierter Unterton? Nichts.

Stattdessen zeigt Unger lieber, wie er sich ins Zeug legt, um dieses halbvergessene Bundesamt aus dem Behördentrott zu reißen und in eine reaktionsschnelle „Dienstleistungszentrale“ zu verwandeln. Er lässt seine Mittagspause sausen und eilt noch einmal die Flure entlang, damit der Besuch den jüngsten Stolz des Hauses zu sehen bekommt, das neue „Gemeinsame Melde- und Lagezentrum“. Ein Großraumbüro, Projektoren für Videokonferenzen hängen von der Decke, eine Wand ist mit riesigen Plasmabildschirmen voll gehängt, verschiedene Fernsehsender laufen parallel, eine Karte listet die Zahl deutscher Helfer in der Flutregion in Asien auf. Mitarbeiter werten hier Informationen über die Lage aus – vom Wetterbericht bis zu den News der Nachrichtenagenturen.

Über die Schwächen des Hauses, aus dem er so viel machen soll, redet Unger vorsichtig: „Bisher sind wir für Sondereinsätze nicht perfekt aufgestellt.“ „Wir“, sagt er, nicht „die“. Und „nicht perfekt“ – obwohl das Beispiel, das er dann zum Besten gibt, einen ehrgeizigen Chef auch zu anderen Formulierungen verleiten könnte.

16 Bundesländer, 323 Kreise, 117 Städte – die Fachleute vor Ort gucken skeptisch auf Ungers Amt

Nach dem Tsunami bot Unger an, mit seiner Behörde die Hilfsaktionen zu unterstützen. Er übernahm das Management, von Weihnachten an wurde durchgearbeitet. Selbstverständlich für eine Katastrophenschutz-Zentrale, möchte man meinen. Doch Unger erlebte eine andere Realität: Über die Feiertage war die Kantine dicht, so wie in gewöhnlichen Verwaltungsbehörden. Dass Sonderschichten auch Hunger machen, das hatte offensichtlich keiner der Notfallexperten im Haus bedacht. „Da musste uns schließlich das THW Bonn mit warmem Essen versorgen“, sagt Unger. Ein anderer Chef würde jetzt Dampf ablassen über die fürchterlichen Nieten im Haus, zumindest hinter vorgehaltener Hand. Unger sagt stattdessen nur: „Wir formen noch ganz stark.“

Es klingt nicht aufgesetzt, wenn der Jurist so redet, sondern aufrichtig und bescheiden. Man denkt: Von der Sorte könnte unser Land mehr gebrauchen! Wo darf man das erleben, dass einer Präsident wird, aber trotzdem nicht eitel? Und doch bleiben Zweifel, Zweifel, ob dieser Mann womöglich nicht ganz so außergewöhnlich ist, sondern schlicht ein ordentlicher Schauspieler.

Weggefährten Ungers aus Hannover kichern, wenn sie diesen Gedanken hören: Wie kurios! Nein, keine Angst, „der Christoph“ sei wirklich so. „Staubtrocken“, „fleißig“, „absolut verlässlich“, „effizient“. Einer, der notfalls lieber im gebügelten Anzug Sandsäcke schleppe, als den freiwilligen Helfern vom warmen Büro aus bei der Knochenarbeit zuzuschauen.

Für diese Einschätzung spricht auch der Praxistest. Ungers Behörde gibt seit Jahren den Leitfaden „Für den Notfall vorgesorgt“ heraus. Im Haus erzählt man stolz, diese Broschüre sei „ein Klassiker“. Das Heft bietet Checklisten zur Vorbereitung auf den Ernstfall: von Fleischkonserven über Dauerbrot und Milchpulver, vom Spirituskocher mit Brennmaterial bis zur Campingtoilette. Hortet er das wirklich alles bei sich daheim, der neue Behördenleiter? Wäre Unger nicht, wie er ist, er würde einfach kaltschnäuzig parieren: „Na, selbstverständlich! Sie etwa nicht?“

Stattdessen druckst er herum, erzählt erst von der Vorliebe seiner Familie für Nudelgerichte, räumt dann ein, dass man bei ihm zu Hause vergeblich einen Spirituskocher suchen würde, dass er aber natürlich Wasser und Grundnahrungsmittel lagere – und entscheidet sich schließlich für die ehrliche Variante: „Bevor wir diese Checkliste jetzt weiter durchgehen, sage ich Ihnen lieber gleich: Wir haben nur einen Bruchteil davon da.“ Man wartet, ob er jetzt gleich bittet, dass man die Geschichte doch lieber vergessen möge. Aber nein. Zu seinem Pragmatismus steht er. Und vermutlich könnte diese Eigenschaft in seiner Position schon bald wirklich überlebenswichtig sein.