„Die deutsche Visadebatte ist Propaganda“, sagt Aleksandr Moroz

Die Ukraine stabilisiert sich langsam – umso bizarrer wirken in Kiew die Attacken gegen Joschka Fischer

taz: Vor zwei Monaten blickte die ganze Welt auf die Ukraine. Jetzt ist Juschtschenko Präsident, das Interesse verfliegt wieder. Läuft alles zu Ihrer Zufriedenheit?

Aleksandr Moroz: Na klar bin ich mit den Resultaten dieses demokratischen Aufstandes zufrieden. Wir wollten die herrschende Oligarchie beseitigen und das Machtsystem so verändern, dass es einen Weg zurück nicht mehr geben kann. Das demokratische Bewusstsein der Bevölkerung hat einen großen Sprung gemacht. Das ist die Voraussetzung für den Aufbau einer zivilen Gesellschaft. Dieses Misstrauen, das die gesamte Gesellschaft durchzog, ist weg. Jetzt sind die Erwartungen der Bevölkerung natürlich sehr hoch.

Angesichts der Ausgangslage können die doch nur enttäuscht werden.

Das sehe ich nicht so. Wenn die Leute sehen, dass wir uns in die richtige Richtung bewegen, dann werden sie Geduld haben. Es ist nicht notwendigerweise so, dass wir das Vertrauen der Menschen verlieren.

Ist das Land noch immer gespalten? Sehen sich die Janukowitsch-Wähler als Verlierer?

Es wäre unehrlich, würde ich sagen, wir hätten einen demokratischen Konsens hergestellt. Die frühere Regierung hat viel Streit gesät, viele Konflikte geschürt. Im Osten und Südosten akzeptiert ein großer Teil der Wähler Juschtschenko noch immer nicht als Präsidenten. Man hat die regionalen Unterschiede künstlich hoch geschaukelt, die ethnischen, religiösen, sprachlichen Differenzen.

Die Europäische Union wird bald Beitrittsverhandlungen mit der Türkei führen. Manche sagen: Die Ukraine ist uns doch näher. Sollte die EU mit offenen Armen auf die Ukraine zugehen?

Die, die dieses Argument vorbringen, wechseln politisches Kleingeld, das ist ein Spiel. Denen geht es nicht um die Ukraine. Lasst uns da raus. Jeder weiß, dass die Ukraine gemessen an allen Standards von einem EU-Beitritt weit entfernt ist.

Sie meinen: Wer so argumentiert, will nicht die Ukraine in der EU, sondern nur die Türkei draußen halten?

Absolut. Die EU muss wissen, ob sie die Türkei aufnehmen will, und nicht die Ukraine als Argument vorschützen. Wenn ihr uns unbedingt in der EU haben wollt: Na bitte, hoppla, da sind wir, nehmt uns doch.

Aber auf lange Sicht wäre ein EU-Beitritt der Ukraine doch erstrebenswert, oder?

Ich will, dass die EU irgendwann daran interessiert ist, dass die Ukraine beitritt. Ich will, dass das Interesse auf Seiten der EU entsteht. Bis dahin ist es ein weiter Weg.

Die EU hat doch nur ein Interesse: dass die Ostgrenzen dicht sind. In der Ukraine geht doch ein neuer Eiserner Vorhang hoch.

Ja, und genau das beunruhigt mich sehr. Diese Realität steht in schroffem Gegensatz zu den schönen Prinzipienerklärungen des Vereinten Europa. Aber ich bin zuversichtlich, dass die Grenzen durchlässiger werden. Wissen Sie, warum? Wenn wir unsere Wirtschaft ankurbeln, wenn wir Investitionen erleichtern, den Zugang zum ukrainischen Markt öffnen, dann wird die westliche Geschäftswelt ein Interesse an der Ukraine entwickeln. Nichts bleibt ewig.

Verfolgen Sie die Diskussion in Deutschland über die Probleme, in die Außenminister Joschka Fischer gerade gerät?

Oh ja, die verfolge ich sehr genau!

Die Botschaft ist da doch: Es kamen zu viele Ukrainer ins Land. Und die sind überwiegend Verbrecher.

Das ist billigste Propaganda. Gäbe es nicht nächstes Jahr Bundestagswahlen, würde uns das erspart bleiben. Kein Mensch würde dann jenen Politiker kritisieren, der meiner Meinung nach am meisten dafür getan hat, dass der Eiserne Vorhang ein bisschen durchlässiger wird. Gab es plötzlich mehr Verbrechen in Deutschland? Hat jemand die ukrainischen Mafiosi gezählt? Gab es keine Prostitution in Deutschland, bevor Joschka Fischer Minister wurde?

Viele fürchten, dass es für Ukrainer künftig schwieriger wird, ein Visum zu erlangen. Sie auch?

Ich glaube nicht, dass das die langfristige Folge sein wird. Aber jetzt, im Augenblick, ist es eindeutig schwieriger. Es ist schon unfassbar: Man hat die demokratische Volksbewegung in der Ukraine mit viel Pathos beklatscht, aber die Leute, die da auf die Straße gingen, denen macht man es wieder schwerer, in die Europäische Union zu reisen. Und wenn die westeuropäischen Länder die illegale Arbeitsimmigration so stört, dann sichert doch die Rechte dieser Leute – behandelt sie nicht als „Bürger zweiter Klasse“! Die Ukrainerinnen arbeiten ja nicht im Milieu, weil sie die besseren Prostituierten sind. Entschuldigen Sie, aber ich rege mich da wirklich auf. Ich halte diese niedrigen politischen Polemiken nicht aus.

INTERVIEW: ROBERT MISIK