Wenn König Tod stopp sagt, gilt’s

SPRECHTHEATER Forced Entertainment performen im HAU über den dünnen Faden des Erzählens

Der Reset gehört zum Erzählen wie der immer gleiche Anfang

Sieben Menschen im Purpurumhang und mit einer Pappkrone auf dem Kopf sitzen auf der Bühne auf Stühlen. Sie spielen ein Spiel und die Regeln sind einfach. Das Spiel ist ein Sprach- und Erzählspiel. Mit dem Satz „Once upon a time“ beginnen die Geschichten, die die sieben einander und dem Publikum erzählen. Mit „Stopp“ kann eine jede einen jeden unterbrechen, um dann selbst eine „Es war einmal“-Geschichte zu beginnen. Konkrete Namen und Ortsangaben gibt es nicht. Alles klingt erst einmal wie ein Märchen.

Umso unheimlicher, wenn da die Wirklichkeit erscheint: etwa in der Geschichte vom Mann, der Keller unter sein Haus baut und seine Tochter dort einsperrt. Brutales wird erzählt, Komisches, Düsteres und ganz Harmloses auch. Nie gelangt etwas ans Ende. Immer kommt von einem Mitspieler ein „Stopp“. Die Zuhörer werden gepackt, gebeutelt und dann allein gelassen mit angefangenen Geschichten. Das geht, der Erschöpfung entgegen, sechs Stunden lang so. In der Performance „And On the Thousandth Night“ zerfällt das Erzählen und hört doch nicht auf.

Auch in „Void Story“, dem jüngsten Stück von Forced Entertainment, geht’s ums Erzählen auf Leben und Tod. In der Mitte der Bühne eine große Leinwand. Darauf zu sehen eine Art Fotoroman in collagierten, schwarz-weißen Bildern. Ein Mann, eine Frau sind die Protagonisten der Geschichte, die nun abläuft. Auf der Bühne selbst tritt niemand auf. Vier Performer geben den Figuren ihre Stimme, sitzen dabei aber die ganze Zeit ruhig an Tischen rechts und links vor der Leinwand. „Void Story“ ist Hörspiel, Kino, Computerspiel, Drama – nichts davon ganz. Der Plot führt durch Tunnel und postapokalyptische Szenerien in den Wald, wo die Bären lauern.

Beide Performances sind Erzähl-Analysen. Ohne die Illusion jedoch, man könne das Erzählen aus der Distanz untersuchen. Vielmehr begeben sich die Performer ins Innerste von Geschichten und scheuen keinen Komik- und Gruseleffekt. Sie führen in „And on the thousandth Night“ die Endlichkeit möglicher Variationen in scheinbar unendlicher Reihe vor. Oder sie führen in „Void Story“ ihre Geschichte mit voller Absicht ad absurdum und zeigen dabei doch auch, dass, wer einmal zu erzählen angefangen hat, da so ohne weiteres nicht mehr rauskommt. Also sind die Performances Versuchsanordnungen übers Immerweiterwissenwollen, über die Kraft, die Geschichten auch da noch haben, wo die Beliebigkeit ihres Fortgangs, die Fadenscheinigkeit ihres Zusammenhangs fühlbar und sichtbar wird.

Wie sich herausstellt, hat dann ja doch alles in Geschichten Platz. Das Ende der Welt und ihr Anfang. Das Unglaublichste und das Langweiligste und der Urknall und namenlos Michael Jackson. Sex und Crime, schmutzige Fantasien, Idyllen und unschuldige Träume. Aller Zusammenhang ist nur Schein. Aller Fortgang ist Täuschung. Mit Lust jagt Tim Etchells, das Forced-Entertainment-Master-Mind, seine Figuren in „Void Story“ zu sinnlosen Höhepunkten. Der Reset gehört zum Erzählen wie der immer gleiche Anfang, das offene Ende und dazwischen ein endloses „und dann“.

Auf der kleinsten der HAU-Bühnen dann noch die Solo-Performance „Sight is the Sense that Dying People Tend to Lose First“, die der Schauspieler Jim Fletcher gemeinsam mit Etchells erarbeitet hat. Hier wird nichts mehr erzählt, hier wird in einem langen Monolog nur Aussagesatz an Aussagesatz gereiht. Es wird die Welt erklärt, Satz für Satz. Banales, Witziges, Tiefgründiges: alles seltsam naiv eins. Anders als im schönen Schein der Erzählung steht die Zeit hier von Anfang an still. Sinn tritt auf, tritt ab, löst sich auf, formt sich neu. Im Stakkato. Wie alles, was Forced Entertainment anfassen, gerät auch dies zur lustvollen Studie eines Zerfalls, der nur auf eine Art aufhören kann. Weil er der einzige aller Könige ist, dessen „Stopp“ gilt, ist niemand präsenter in diesen Stücken als der Tod.

EKKEHARD KNÖRER