„Der deutsche Sozialstaat funktioniert“

Zu Unrecht beklagt die Linke, dass in Deutschland der Wohlstand schlecht umverteilt wird, sagt der Volkswirt Gert Wagner. Die Armen brauchten nicht weitere Sozialleistungen, sondern bessere Bildungschancen. Auch niedrigere Löhne seien hilfreich

INTERVIEWULRIKE WINKELMANN

taz: Herr Wagner, die Regierung kommentiert ihren Armutsbericht damit, Deutschland sei von amerikanischen Verhältnissen weit entfernt. Sie haben am Bericht mitgewirkt. Ist bei der Armutsentwicklung der Abstand zu Amerika der Maßstab?

Gert Wagner: Der Bericht dient unter anderem der internationalen Vergleichbarkeit. Und da steht Deutschland in der Tat zwar hinter den skandinavischen Ländern, aber insgesamt nicht schlecht da. Dies muss auch Leuten entgegengehalten werden, die behaupten, unter dem Globalisierungsdruck würde der Sozialstaat zusammenbrechen. Er funktioniert weiterhin, zumindest was die finanzielle Umverteilung betrifft.

Rot-Grün nähert sich amerikanischen Verhältnissen allerdings durchaus an: Die niedrigen Löhne sollen zum Beispiel noch weiter runter. Dadurch schafft man Armut.

Nein. Armut wird durch eine positive Arbeitsmarktentwicklung am besten bekämpft. Und dabei ist der Zugang zum Arbeitsmarkt entscheidend; da können niedrigere Einstiegslöhne helfen. Langfristig geben die Bildungschancen den Ausschlag. Deshalb sollten die Linke und Sozialverbände nicht routinemäßig mangelnde Umverteilung anprangern, sondern mithelfen, die Konsequenzen aus der Pisa-Studie zu ziehen. Kinder aus „bildungsfernen Elternhäusern“, insbesondere Zuwandererkinder, brauchen in den Schulen eine faire Chance.

Ab jetzt braucht Rot-Grün also nur noch anklagend auf den Bundesrat zu zeigen, wo die Unionsländer angeblich jeden Fortschritt bei der Bildungspolitik blockieren – und das war’s.

Ach was. Die SPD hat bei der Bildungspolitik auch versagt. Wir haben nirgendwo ein tragfähiges Schulkonzept der Zukunft.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband sagt: Bildung ist wichtig, aber Voraussetzung für Teilhabe ist nun einmal Geld. Und die Zumessung der Sozialleistungen sei skandalös niedrig.

Was die Gesellschaft für ein lebensnotwendiges Minimum hält, steht in keinem Lehrbuch. International jedenfalls fällt Deutschland bei der Höhe der Zuwendungen nicht unangenehm auf. Die Einkommensstatistiken zeigen, dass nicht die Lohnverteilung ungleicher wird, sondern Arbeitslosigkeit schafft Ungleichheit. Und da hat Rot-Grün in der Tat seit 1998 noch nichts zustande gebracht. Das ist mit Regelsätzen aber nicht zu ändern, sondern mit einer vernünftigen Wirtschaftspolitik.

Die Zahlen für den Armutsbericht wurden vor der Gesundheitsreform und vor Hartz IV erhoben. Wie wird der nächste Armutsbericht aussehen?

Ich hoffe, er zeigt, dass Hartz IV Langzeitarbeitslosigkeit abgebaut hat. Vermutlich wird sich aber auch zeigen, dass viele der Neu-Rentner in Ostdeutschland lange arbeitslos waren, keine Betriebsrenten und keine Vermögen haben. In fernerer Zukunft wird es sich auch im Westen rächen, dass wir die Riester-Rente, also die private Altersvorsorge, nicht für alle verpflichtend eingeführt haben.