Ein Leben in fremden Händen

Ihr Lebensgefährte findet, dass der Betreuer an ihrem Verfall schuld war

AUS BERLIN JOHANNES GERNERT

Es lässt sich nicht genau sagen, wann es anfing, und schon gar nicht, warum. Wahrscheinlich lag es am Unfall. Irgendwann jedenfalls fing Gerda Wagner an, aggressiv zu werden. „Sie rang ständig nach widerlichen Ausdrücken“, sagt Fritz Rudolph, der Lebensgefährte, mit dem sie damals zusammenwohnte. Sie hat ihm Geld geklaut und wahllos eingekauft. Sie hat getrunken. Und sie hat ihn geschlagen. Er hat oft den Sozialpsychiatrischen Dienst gerufen und manchmal die Polizei. Zweimal haben sie Gerda Wagner für sechs Wochen mit in die Psychiatrie genommen.

Als sie danach wieder zurück in seine Wohnung in Berlin-Tiergarten kam, gab es einen Betreuungsbeschluss des Amtsgerichts. Darin stand, dass sie an einer „organischen Persönlichkeitsstörung im Sinne eines Frontalhirnsyndroms“ leide. Gerda Wagner wurde für geschäftsunfähig erklärt. Da war sie Mitte fünfzig. Wenig später zog sie bei ihrem Lebensgefährten aus, weil die Sozialarbeiter vom Sozialpsychiatrischen Dienst glaubten, dass das für beide besser sei. Ein Anwalt wurde ihr Betreuer. Er sollte, beschloss das Gericht, für ihre Gesundheit, ihr Vermögen und ihre Wohnungsangelegenheiten sorgen. Er brachte sie in einem Hotel unter.

Einige Jahre später lag sie auf einer Pritsche in einer kaum möblierten Wohnung. Sie konnte nicht mehr laufen, nur kriechen. Auf dem Boden standen etliche Sektflaschen, daneben ein Haufen Bücher, darauf die Post der vergangenen Wochen. Ein paar Briefe hatte sie geöffnet. Ihre Bettdecke stank nach Erbrochenem und Durchfall. Ihr Gesicht war voll roter Flecke. Sie wurde ins Krankenhaus gebracht.

Fritz Rudolph, der Lebensgefährte, hat seinen Schuldigen längst gefunden. Den Betreuer. Rudolph heißt eigentlich anders, genauso wie Gerda Wagner. Er sitzt im dämmrigen Wohnzimmer. In den Regalen stehen afrikanische Skulpturen, die Bücher wirken antiquarisch. Er hat eine braune Cordhose an und eine grüne Strickweste. Vor ihm liegt seine persönliche Anklageschrift. Er hat alles aufgeschrieben. Fritz Rudolph sagt: „Eine Betreuung findet nicht statt.“

Christian Fust verschwindet fast hinter der Reihe von Aktenordnern auf dem Schreibtisch in seiner Kanzlei in Berlin-Neukölln. Er erzählt, wie er direkt nach dem Jurastudium zum Berufsbetreuer wurde. Es war die Zeit der großen Betreuungsreform Anfang der Neunzigerjahre. Die Entmündigung wurde abgeschafft und die Betreuung eingeführt. „Der Mensch sollte im Mittelpunkt stehen, die Betreuten sollten möglichst viele Rechte behalten“, sagt er. Viele Anwälte fürchteten, weniger zu verdienen, und hörten auf. Christian Fust sah das als Chance.

Das Betreuungsgesetz wird jetzt wieder geändert, weil die Zahl der Betreuungen seit 1992 von rund 400.000 auf über eine Million angestiegen ist. Das alles ist teuer. Deswegen sollen die Kosten fürs Betreuen gesenkt werden. In Zukunft wird es eine Pauschale geben statt Einzelabrechnungen. Fust wird ein paar Aktenordner weniger füllen müssen. Für 80 Prozent seiner Betreuten wäre dann aber auch weniger Zeit vorgesehen als zuvor, sagt er.

Gerda Wagner wohnt heute in einem kleinen Zimmer. Man nennt das Trainingswohnung, aber es sieht aus wie in einem Heim. Sie soll hier leben lernen. „Das Einzige, was man beigebracht bekommt, ist, wie man mit einem Löffel isst“, sagt sie. „Das kann ich aber schon.“ Sie will selbstständig wirken. Über die Zeit in der Wohnung spricht sie nicht gerne. An den Unfall erinnert sie sich nicht.

Sie waren im Urlaub in den USA. Fritz Rudolph lief ein paar Schritte vor ihr, als sie in San Diego über den Zebrastreifen gingen. Die Autofahrerin hatte für einen Moment nicht aufgepasst. Gerda Wagners Schädel musste danach wegen eines Blutergusses aufgesägt werden. Sie lag einige Wochen in Gips. „Da hab ich den Dachschaden gekriegt“, sagt sie, lacht und tippt auf die Metallplatte über der Schläfe.

Sie erzählt gerne von früher, als sie noch geflogen ist oder Fallschirm gesprungen. In Formationen sind sie manchmal zusammen vom Himmel gefallen. Sie hatte einen Pilotenschein. Bei der Lufthansa hat sie als „Flight- Dispatcherin“ gearbeitet. Sie musste Flugrouten bestimmen. Das Wetter einberechnen und das Gewicht der Maschinen. „Komme ich damit über die Wolkendecke, reicht der Fuel, wo ist ein Notlandeflughafen?“ Zwischendurch sagt sie Flughafencodes auf, wie zum Beweis, dass das alles stimmt, dass sie früher wirklich einmal eine andere war. Sie will raus aus der Trainingswohnung.

Nachdem sie nach dem Betreuungsbeschluss bei Fritz Rudolph ausgezogen war, wohnte sie kurz im Hotel. Dann ist sie nach Sylt gefahren. Sie hatte nichts zum Anziehen dabei, also hat er ihr zwei Koffer gepackt und sie besucht. Sie ist nicht gut allein zurechtgekommen. Sie hat einen Hund auf Zimmer genommen und nicht nach draußen gelassen. Bald war alles voll Hundehaufen. Sie ist rausgeflogen und von Pension zu Pension gezogen. Sie hat getrunken. Auf der Insel wollte bald niemand mehr an sie vermieten. Rudolph hat in dieser Zeit oft im Anwaltsbüro des Betreuers angerufen und um Hilfe gebeten.

Zwischendurch war sie in München. Schließlich kam sie zurück nach Berlin und mietete sich in einer Pension ein. Fritz Rudolph sagt: „Die Russenpension“, weil sie einem Russen gehört. Es wurde viel Wodka getrunken. Kein gutes Umfeld für eine, der im Betreuungsbeschluss „Alkoholabusus“ unterstellt wird. Es dauerte eine Weile, aber schließlich mietete der Betreuer ihr eine Wohnung. Ihre Möbel standen noch in Rudolphs Schlafzimmer. Der rief oft beim Anwalt an und sagte, dass er sie loswerden will. Weil das nicht klappte, hat Rudolph eine Pritsche ertrödelt oder „für fünf Euro mal einen Schemel“. „Er hat sie in die Wohnung gesetzt, ohne dass da auch nur ein Stuhl drin war. Er hat sicher damit gerechnet, dass ich dafür schon sorgen werde“, sagt Rudolph.

Alle paar Tage ist er zu ihr gefahren und hat ihr Sekt und Obst gebracht. Sie hat ihn nicht immer reingelassen. Er habe ein schlechtes Gewissen gehabt, aber er habe verhindern wollen, dass sie ihr ganzes Vermögen ausgibt. Wenn nicht er sie mit Alkohol versorgt hätte, hätte sie Taxifahrer beauftragt, sagt Rudolph. Gerda Wagner hatte nach dem Unfall Geld von der Versicherung bekommen. Heute ist nichts mehr übrig. Die Hotels, der Alkohol, manchmal hat sie wieder wahllos eingekauft. Der Betreuer hätte das verhindern müssen, findet Rudolph.

Zurzeit kümmert sich Christian Fust um 30 Menschen. Die Hälfte vertritt er nur in rechtlichen Fragen, oft geht es um Geld. Die anderen 15 sind „vollumfängliche“ Betreuungen. Bei ihnen ist Fust auch für die Gesundheit verantwortlich und für die Unterbringung. Es gibt einen Bundesverband für Berufsbetreuer, dessen Vorsitzender sagt, dass man mit 30 Betreuten schon genug zu tun haben kann, wenn das Betreuen ein Hauptberuf ist. Fust ist Gerichtsanwalt, er hat auch Mandanten.

Sie lag in einer kaum möblierten Wohnung, konnte nicht mehr laufen, nur kriechen

Christian Fust betreut Gerda Wagner. In ihrem Heim sagen sie, dass Fust einer der Besten ist, weil er die Sache ernst nimmt. Er kommt zu Teambesprechungen der Heimmitarbeiter, er besucht seine Klienten. Fust sagt, dass ihm viel an ihrem Wohl liegt. Wahrscheinlich ist das so.

Er erzählt Gerda Wagners Geschichte im Grunde genauso wie Fritz Rudolph. Die Fakten sind dieselben, sie sind auf den abgehefteten Zetteln in den zehn Aktenordnern dokumentiert, auf denen Gerda Wagners Name steht. Christian Fust bewertet diese Fakten anders. „Es kommt selten vor, dass Betreute umziehen. Aber wenn jemand nach Sylt möchte, dann ist das völlig okay“, sagt er. Er könne sie auch nicht davon abhalten, in teuren Hotels zu wohnen. „Der Betreute darf sein Geld verschleudern.“ Andere Betreuer würden sich weigern, für bestimmte Dinge aufzukommen. Aber wenn er etwa die „Russenpension“ nicht mehr bezahlt hätte, wäre Gerda Wagner auf der Straße gelandet.

Christian Fust spricht viel von persönlicher Freiheit und vom Recht, außerhalb der Norm zu leben. Er hat genau das getan, was das Betreuungsgesetz fordert. Er hat Gerda Wagner so viel Freiheit gelassen wie möglich und nie etwas gegen ihren Willen unternommen.

Er hat sie in einer Wohnung ohne Möbel wohnen lassen, weil sie gesagt hat, sie will sich erst einen Teppich kaufen, bevor alles eingerichtet wird. Das steht auf den Zetteln in den Aktenordnern. Jeder Anruf ist dort verzeichnet. Auch die von Fritz Rudolph. Christian Fust hat ihre Privatsphäre so lange akzeptiert, bis sie fast an einer Alkoholvergiftung gestorben wäre. Er hat am Ende die Polizei gerufen, als sie eine Weile schon nicht mehr die Wohnungstür geöffnet hatte und er sie auch telefonisch nicht mehr erreichte. Rechtlich hat er alles richtig gemacht.

Christian Fust denkt jetzt darüber nach, ob er Gerda Wagner woanders unterbringen soll. In einer betreuten Wohngemeinschaft vielleicht. Sie beschwert sich nun schon eine Weile über die seltsamen Mitbewohner, über das schlechte Essen. Die Ärzte sagen, sie solle besser bleiben, wo sie ist. Fust überlegt, ob er notfalls gegen deren Rat entscheidet. „Ich sage allerdings nicht, dass ich die Freiheit immer bis zum Letzten verfechte“, sagt er. Im Augenblick hört er einmal nicht auf den Willen seiner Betreuten.