Der Baum ist tot

Wo die A 20 hinkommt, wächst keine Eiche mehr. Selbst wenn sie 350 Jahre alt ist. „Schade, so einen Baum abzusägen“ sagt Ulf Stühmer. Er hat es trotzdem getan / Ein Standortbesuch zwischen Bad Segeberg und Lübeck von Esther Geißlinger

Er hat sie oft gesehen, morgens auf dem Weg zur Arbeit. Hat zu ihr rüber geschaut und sie bewundert, wie sie da stand, nahe der Straße. Der hohe Wuchs, die Gestalt: „So was sieht man nicht oft“, hat er gedacht und sich heimlich gewünscht: „Die hätte ich gern.“

Nun hat er sie. Sie liegt hingestreckt im Schnee, und Ulf Stühmer darf tun, was er schon lange wollte: die Säge ansetzen. „Ich habe Respekt vor so alten Bäumen“, sagt der Tischlermeister. Stühmer ist ein junger Mann mit einem schmalen Gesicht, das an diesem Tag angespannt wirkt. Es geht für ihn um etwas, und dieses Etwas ist sein mobiles Sägewerk, das er vorführen will. Da darf nichts schief gehen. Presse hat er eingeladen und ein Kamerateam, das einen Werbefilm drehen soll über ihn und seine Säge. Die alte Eiche, die tot im eisigen Schlamm liegt, ist ein Glückfall für Ulf Stühmer, auch wenn er sie ein wenig bedauert: „Schade, so einen Baum abzusägen.“

Aber die Eiche, 350 Jahre alt, 22 Meter hoch, stand im Weg. „Genau auf der Trasse“, erklärt Stefan Zech. Er und sein Partner Andreas Gulski sind zuständig dafür, die Trasse zu räumen – für die Autobahn 20, die hier entlangführen soll, nahe bei, teilweise auf der heutigen Bundesstraße 206 zwischen Lübeck und Bad Segeberg. Zech, Chef der Firma „Ho Wa Ku Ba“, mag alte Bäume auch. Er lebt von ihnen: „Ho Wa Ku Ba“ steht für „Holz Wald Kunst Baum“. Zech kümmert sich in Parks und Wäldern um Baumpflege, saniert Problemfälle und schafft abgestorbene Riesen weg. Aus dem Holz baut er Spielzeug und Möbel, lauter Unikate.

Jetzt hat er den Auftrag erhalten, Platz zu schaffen für den Autobahnbau. Die 350 Jahre alte Eiche, ein Riese mit einem Stammumfang von fast zwei Metern, war der größte Baum auf diesem Teilstück der Trasse. Ansonsten sägen Zech und Gulski vor allem kleinere Buchen aus der Bahn und brechen Knicks, die traditionellen Hecken zwischen den Feldern. Etwa 7.000 Meter Knickbestand gehen allein auf diesem Stück zwischen Lübeck und Bad Segeberg verloren. Bis zum 15. März müssen die meisten Bäume gefällt und die Reste abgefahren sein, dann beginnt die Brutsaison. „Wir kriegen das aber hin“, erklärt Zech. „80 Prozent haben wir schon geschafft.“

Die Männer, die an diesem Tag um die gefallene Eiche herumstehen und Stühmer beobachten, wie er seine mobile Säge aufbaut, sagen alle, wie schade es um den Baum sei. Eines allerdings beruhigt die Gemüter ein wenig: „Sie war faulig“, sagt Zech. „Wir mussten sie nur antippen, dann kippte sie schon. Das wäre fast gefährlich geworden.“ Mit guter und teurer Pflege hätte die Eiche länger durchgehalten – aber wer steckt schon Geld in einen Baum auf einem Feld nahe einer Bundesstraße? Ohne die A 20, meint Zech, wäre die Eiche vermutlich irgendwann einfach umgefallen.

Ulf Stühmers Interesse gilt einem geraden Teilstück des Stammes, das allein etwa acht Meter misst. Die Reste der Eiche, die dicken Äste, die Zweige, liegen in einem unordentlichen Haufen neben dem Stamm, Zechs und Gulskis Helfer heben sie mit schweren Maschinen aus dem Weg. Es schneit unaufhörlich in feinen, nassen Flocken, die Männer tragen dicke Handschuhe und blasen weiße Atemwolken in den trüben Himmel. Nahe vorbei rauscht der Verkehr auf der B 206. Manchmal fahren die Lastwagen Stoßstange an Stoßstange.

Ja, sagt der Journalist von der Segeberger Zeitung, es gab auch hier in der Gegend Proteste gegen die geplante Autobahn. Aber viele Menschen wünschten sie sich auch, besonders, wenn sie pendeln und täglich hinter den Lastwagen über die B 206 kriechen.

An diesem Tag, zur Beerdigung der gefallenen Eiche, ist kein Protestler erschienen, obwohl der Baum ein schönes Symbol wäre, groß und alt, wie er war. Vielleicht haben die Bürgerinitiativen einfach nichts von dem Sägetermin gewusst. Oder sie haben resigniert.

Die Rinde der Eiche ist narbig und bemoost, kleine Zweige wachsen aus der Flanke des gefällten Riesen. Eine Landschaft für sich, eine Welt für Kleingetier und andere Pflanzen. Ulf Stühmer hat seine Säge in einem Gestell über dem Stamm justiert und beginnt zu schneiden. Die ersten Schnitte hinterlassen kaum Spuren, dann schwindet die Rinde, das helle Holz kommt zum Vorschein, glatt poliert von der scharfen Klinge. Es riecht nach Holz und ein wenig faulig: Der kranke Baum dünstet den Geruch eines Langzeitpatienten.

Zech und Gulski stehen jenseits der Absperrung, staunen und fachsimpeln über die Säge. „Ein bisschen wie so eine Mac-Gyver-Maschine, du weißt schon, der Typ, der aus Bindfaden ein Raumschiff bastelt“, meint Gulski, es klingt bewundernd. Die Bretter, die Stühmer aus dem Stamm herausschneidet, sind glatt und gerade, so lässt sich das Holz noch gebrauchen.

Stühmer hat seine Familie mitgebracht, Vater, Mutter, die Schwester mit Baby, weil sie endlich auch mal die Maschine sehen wollen, die ihr Ulf vertreibt. Sie sind begeistert, obwohl es nass und kalt ist und schwierig, richtig begeistert zu sein bei so einem Wetter.

Ulf Stühmer hat den Baum gekauft, er wird die Bretter abtransportieren, wenn er mit der Arbeit fertig ist. Trotz der faulen Stellen entdeckt der Tischler helle, schöne Maserungen: „Ich werde etwas daraus bauen“, sagt er. “Es ist doch besser, dass Möbel daraus werden statt Brennholz.“

Er hat ja schon immer gewusst: die alte Eiche ist etwas ganz Besonderes.