Die Taten nach dem Tod

Schulsenatorin Dinges-Dierig wegen des Verhungerns der siebenjährigen Jessica unter Druck. Bürgermeister von Beust fordert von ihr Aufklärung, Opposition ebenfalls. Neue Dienstanweisung schaltet Jugendämter bei Schule-Schwänzen automatisch ein

Von Kaija Kutter
und Sven-Michael Veit

Er sei „entsetzt und voller Trauer“ über den Hungertod der siebenjährigen Jessica am Dienstag, erklärte gestern Bürgermeister Ole von Beust (CDU). Den Worten ließ er umgehend Taten folgen: Bildungssenatorin Alexandra Dinges-Dierig (parteilos) erhielt den Auftrag, bis zur nächsten Sitzung des Senats am Dienstag eine „minutiöse Prüfung“ der Behördenaktivitäten in diesem Fall vorzulegen.

Derart unter Druck demonstrierte Dinges-Dierig gestern Handlungsfähigkeit. Sie selbst bleibt zwar im Urlaub, ließ aber ihren aus den Ferien zurückgekehrten Pressesprecher Alexander Luckow eine Erklärung abgeben. Seine Senatorin sei „erschüttert über den grausamen Tod der kleinen Jessica“, beteuerte er. Zugleich ordnete die Senatorin per Dienstanweisung an, dass künftig „zwingend“ die Jugendämter informiert werden sollen, wenn der Verdacht besteht, dass Eltern ein Kind vom Schulbesuch fernhalten.

Die Jugendämter können, wenn Gefahr für das Kindeswohl besteht, vor Gericht eine Öffnung der Wohnungstür erwirken. Ferner will Dinges-Dierig prüfen lassen, ob auch die Schulbehörde per Gesetzesänderung mit dieser Kompetenz ausgestattet werden kann.

Jessica hätte eigentlich im März 2004 für die erste Klasse angemeldet werden müssen, war aber nie in der Schule erschienen. Ein Mitarbeiter von Rebus, der Problemfall-Abteilung der Schulbehörde, klingelte im April mehrfach erfolglos an der Tür der Hochhauswohnung in Jenfeld. Der Fall wurde weder ans Jugendamt noch ans Einwohnermeldeamt weitergeleitet.

Von einem „Versagen der Politik“ sprach gestern die SPD-Abgeordnete Britta Ernst. „Mich irritiert die Aussage der Schulbehörde, dass sie keine Schuld trifft“, ergänzt GAL-Fraktionschefin Christa Goetsch. Beide haben sich gemeinsam mit der ebenfalls entsetzten CDU-Fraktion darauf verständigt, den Fall Jessica in einer Sondersitzung des Schul- und Jugendausschusses am 29. März zu behandeln. Für Ernst stellt sich die Frage, ob es weitere ähnliche Fälle gibt. Denn bei der ersten Untersuchung aller Viereinhalbjährigen im März 2004 hatte sich herausgestellt, dass nur 95,5 Prozent der Kinder auf Anhieb erreicht wurden.

Folgen für die Rebus-Mitarbeiter wird es wohl nicht geben. Diese hätten einen „hohen Prozentsatz“ von Fällen, wo Kinder falsch gemeldet sind, erklärte Luckow, „zum Beispiel in Migrantenfamilien. Allein in Billstedt hatten wir 58 Fälle von Schuleschwänzen, wovon in 19 Fällen die Kinder weggezogen waren.“

Jessicas Eltern bleiben derweil wegen Fluchtgefahr in U-Haft. Gegen die 35-jährige Mutter und den 49-jährigen Vater war am Dienstag Haftbefehl wegen „gemeinschaftlichen Totschlags durch Unterlassen“ ergangen. Sie sollen das Kind in einem abgedunkelten und ungeheizten Zimmer ihrer Hochhaus-Wohnung wie eine Gefangene gehalten haben, bestätigte gestern eine Polizeisprecherin. Außerdem bekam das Mädchen offenbar seit längerer Zeit kaum noch etwas zu essen. Aus Verzweiflung habe Jessica die eigenen Haare geschluckt, wie die Obduktion ergab. Die Siebenjährige wog zuletzt nur noch 9,5 Kilo.

Warum die arbeitslosen Eltern ihr Kind so qualvoll sterben ließen, darüber rätseln die Ermittler noch. Nach ersten Aussagen wollen sie gar nicht bemerkt haben, wie kritisch der Zustand des Mädchens war. Gestern wurden zudem mehrere Nachbarn und Verwandte als Zeugen vernommen, berichtete ein Polizeisprecher. Sollten sich Anhaltspunkte für Fehler bei den Behörden ergeben, werde es möglicherweise auch in diesem Bereich Ermittlungen geben.

Trauergottesdienst für Jessica, Sonntag, 6. März, 18 Uhr, Friedenskirche Jenfeld, Görlitzer Str. 12.