berliner szenen Lost in Time und Space

„Mutti!“

Düster verschneit und still war die Mittenwalder Straße am Abend. Ich fummelte am Fahrradschloss herum, um es aufzuschließen. Von weitem rief jemand, den man nicht sah, laut „Mutti“. Ich guckte in die Richtung des Rufers. Größer werdend sah ich den, der gerufen hatte, näher kommen. Der kleine Mann war Mitte 50, wie mir schien, und trug einen zerschlissenen Anzug. Man sah das alles aber auch nicht so genau. Ich stellte mich jedenfalls so an mein Fahrrad, dass ich ihn in meinem Blick behielt, während er an mir vorbeiging; um reagieren zu können, falls es ihm plötzlich einfallen sollte, mich zu schlagen. Er ging aber weiter, ohne mich zu schlagen. Vielleicht hatte ich ja gerade eine Schlagefantasie gehabt. Und als ich das Fahrrad dann aufgeschlossen hatte, hörte man ihn noch einmal von weitem, als wenn er geschlachtet würde, laut „Mutti“ rufen.

Und dann kam Max Müller, der Sänger der Gruppe „Mutter“ aus einem Hauseingang raus. Ich erzählte ihm das eben Geschehene in der Meinung, das müsse ihn doch sehr interessieren. Er sagte so etwas wie „echt?!“.

Dann hörte man, nun schon viele Meter entfernt, den Mann noch einmal „Mutti“ rufen. Bei aller Emotionalität und trotz der Lautstärke hatte sein Ruf etwas Leierndes, fast Schepperndes. Wahrscheinlich hatte ihn seine Mutter vor fünfzig Jahren verlassen. Es könnte aber auch sein, dass er wie so einige Kreuzberger noch bei seiner Mutter lebt. Vielleicht waren die beiden nur spazierengegangen und der Sohn hatte so sehr getrödelt, dass er seine Mutter aus den Augen verloren hatte und sein Rufen, das so herzzerreißend lost in time und space geklungen hatte, hätte so einen ganz konkreten Adressaten gehabt. Das ist aber unwahrscheinlich. DETLEF KUHLBRODT