Alle Mädchen sind Micaela

Statt klassischer Musik schallt HipHop über die Bühne: Das TUSCH-Projekt „Theater und Schule“ hat mit „Micaela/Carmen“ SchülerInnen aus Berliner Bezirken an Bizets Oper herangeführt. Am Sonntag ist Premiere an der Staatsoper Unter den Linden

VON ANDREA EDLINGER

Wer einmal als junger Mensch auf der Bühne eines Theaters stand, wird auch später im Zuschauerraum die besondere Atmosphäre dieses Ortes spüren. Denn die Begeisterung für das Theater ist nicht einfach vorhanden, sondern muss erarbeitet werden. Wie viel Spannung in Opern- und Theatergeschichten steckt, was für eine sinnliche Erfahrung eine Aufführung sein kann – das haben Anna und Patricia längst begriffen. Am Sonntag werden die Elftklässlerinnen der Weddinger Lessing-Oberschule im Theater sein, als Darstellerinnen im Stück „Micaela/Carmen“, mit dem die TUSCH-Festwoche in der Staatsoper Unter den Linden eröffnet.

TUSCH, das steht für „Theater und Schule“ und ist ein Projekt von Berliner Bühnen und Schulen, das bereits vor sieben Jahren gegründet wurde. Jugendliche aus 33 Berliner Schulen stehen in diesem Jahr auf der Bühne renommierter Häuser wie der Staatsoper, dem Deutschen Theater oder der Volksbühne. Sechs Tage lang werden sie Arbeiten zeigen, die sie während des laufenden Schuljahrs eingeübt haben; aufgeführt werden so unterschiedliche Stücke wie die Bearbeitung von Dorota Maslowskas Erfolgsroman „Schneeweiß und Russenrot“, vier Miniproduktionen mit dem Titel „Heißes Pflaster“, in dem es unter anderem um die Liebe zwischen jungen Frauen geht, oder die Bühnenversion des Louis-Malle-Films „Zazie in der Metro“.

Die Inszenierung „Micaela/ Carmen“ beeindruckt schon durch die große Zahl der Teilnehmenden: Anna und Patricia sind nur zwei von insgesamt 80 Schülern, die aus Oberschulen in Kreuzberg, Wedding, Charlottenburg und Pankow für das Projekt zusammengekommen sind. Als Vorlage diente Bizets berühmte Oper „Carmen“, doch die jungen Leute haben das Stück auf ganz eigene Weise in Szene gesetzt. Das wird bei einem Besuch der Proben klar: Statt klassischer Musik schallt HipHop über die Bühne, junge Leute laufen in T-Shirts und Sneakers umher.

Schauplatz einer Szene ist die Berliner U-Bahn. Einer der Schüler imitiert die Lautsprecheransagen: „Kurt-Schumacher-Platz, Afrikanische Straße, Zurückbleiben bittte …“ Im U-Bahn-Wagen: Zwei Jungs wollen zwei Mädchen mit einem Rap beeindrucken. Ein Bettler streift durch den Wagen und singt ein Lied von Xavier Naidoo. Drogendealer ohne Fahrkarten und Kontrolleure treffen aufeinander – es kommt zum Streit. Was ursprünglich eine Darstellung des aristokratischen Lebens im Spanien des 19. Jahrhunderts war, spielt jetzt im Berlin der Gegenwart, und damit im Alltag derjenigen, die hier auf der Bühne stehen.

Dass das Theater nicht blosse Fiktion, sondern unmittelbar mit dem Leben verknüpft ist – diese Überzeugung führt Anne-Kathrin Ostrop in ihrer Arbeit als Musiktheaterpädagogin an der Komischen Oper jungen Menschen vor. Gemeinsam mit Rainer Brinkmann von der Staatsoper ist sie für die inhaltliche Konzeption von „Micaela/Carmen“ verantwortlich. Die Einbettung des Stücks in aktuelle Lebensumstände beschränkt sich dabei nicht auf die Gestaltung der Szenerien, auch inhaltliche Veränderungen wurden vorgenommen. Der Titel der Neuadaption deutet es an: Die Handlung dreht sich nicht allein um die schöne Carmen, sondern die im Original unscheinbare Micaela steht nun im Vordergrund. Ihre Liebe wird von dem stolzen Don José, der jetzt Boxer statt Stierkämpfer ist, nicht erwidert. „Alle Mädchen wollen Carmen spielen, sind aber selbst Micaela“, sagt Ostrop mit einem breiten Grinsen. „Es war wichtig, die Nebenfigur stark zu machen, um dadurch die Schüler selbst zu stärken. So können sie Erfahrungen und Gedanken aus ihrem eigenen Leben in die Geschichte einarbeiten.“

Die Schüler haben sich die Bühne nach ihren Vorstellungen aneignen können, sie haben aber auch selbst neue Erfahrungen gemacht. Von Körpertraining bis Gesangsunterricht, vom Tanz bis zur Mimik erlebten sie in monatelangen Vorbereitungen unmittelbar, was Theaterarbeit bedeutet. Nebenbei haben sie auch das mitbekommen, was lehrplanmäßig als soziale Kompetenz bezeichnet wird. „Bei all dem Stress hat es schon auch manchmal Streit gegeben, zum Beispiel wenn einer eine blöde Bemerkung über andere abgelassen hat. Aber da lernt man halt, wie man im Team damit umgehen kann und wie man das löst. Dann spürt man schon, dass man viel selbstbewusster geworden ist, weil man ständig vor anderen auf der Bühne steht“, sagt Anna. Dass sie bei der Premiere des Stücks aufgeregt sein wird, glaubt sie dennoch. Aber irgendwie geht es ja auch gerade darum: Um Emotionen und Spannung, um Dinge, die einen bewegen.

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