Wahrheit am Scheideweg

Neues von der beliebtesten Kreuzung der Welt: Der Times Square ist überfüllt

NEW YORK taz ■ „Alle paar Wochen schauen wir uns am Scheideweg um, was so los ist und wer neu eingetroffen ist an der beliebtesten Wegkreuzung der Welt.“ So beginnt seit Jahren unser allmonatlicher Bericht über die totgerittenste Metapher des deutschen Pressewesens. Jeder ist schon einmal am Scheideweg gesichtet worden, egal ob George W. Bush oder Bayern München. Bislang war es Fiktion, nun aber ist die Wahrheit tatsächlich an den Scheideweg gereist, um die Lage zu überprüfen.

Halb Deutschland ist in New York, meint der Immigration Officer am Flughafen JFK und weiß von einer regelrechten Einreisewelle zu berichten. „Only for pleasure“, antworte ich wahrheitsgemäß, als er mich fragt, warum ich nach New York geflogen bin. Ich sei wegen „Christos Gates“ hier, behaupte ich weiter, als er sich genauer nach meinem Vergnügen erkundet. Halb Deutschland sei deshalb schon herübergekommen, grinst der Beamte und zuckt verständnislos mit den Schultern. Die Deutschen lieben eben Monumentalkunst, erkläre ich ihm, was das Grinsen aus seinem Gesicht vertreibt. Mürrisch legt er nun erst meinen linken, dann meinen rechten Zeigefinger in eine Mulde, nimmt elektronisch die Fingerabdrücke und verlangt sehr ernst, ich solle in eine Kamera lächeln. Was tut man nicht alles, um zum Scheideweg durchzukommen.

Die Deutschen sind nicht allein in New York, das IOC ist auch soeben angereist. Den Mitgliedern des Internationalen Olympischen Komitees wird New Yorks Bürgermeister Bloomberg während eines Spaziergangs durch den Central Park die Vorzüge der Stadt gegenüber ihren Mitbewerbern Paris und London für die Spiele 2012 erklären. Und wie alle Touristen lächeln die Olympier unbeholfen angesichts der thaicurryfarbenen Tücher, die schlaff über den verschneiten Parkwegen hängen.

New Yorker kann man derzeit daran erkennen, dass sie komplizenhaft Passanten fragen, ob sie das Kunstwerk denn auch wirklich mögen. „Sure!“, antwortet man höflich und lächelt sich eins. Es liegt ein breites Gates-Grinsen über dem matschigen Central Park. Dem es schleunigst zu entfliehen gilt.

Und so stiefelt man vom Süden des Parks über den Columbus Circle den Broadway hinab – in Richtung Times Square, der beliebtesten Kreuzung der Welt, den „Crossroads of the world“, wie die Gabelung in gewohnter New Yorker Art großspurig heißt: „der Scheideweg der Welt“. Denn hier laufen zwei der bekanntesten Straßen des ganzen Universums zusammen: der Broadway und die Seventh Avenue. An ihrem Schnittpunkt findet alljährlich eine der – nein, New Yorker sagen selbstverständlich: die größte Silvesterparty der Welt statt. „Broadway’s like a serpent.“

Wie eine Schlange zieht sich der Boulevard dahin, und man lässt sich gemeinsam mit Tausenden treiben, sprintet bei Rot über kreuzende Streets, obwohl eine leuchtend rote Hand an den Ampeln davor warnt. Plötzlich bleibt man gebannt stehen – zumindest so lange, bis ein Schimpfworte zischender Einheimischer entschlossen seine durchtrainierten Football-Ellenbogen einsetzt, um sich durchzukämpfen.

Der Times Square ist überwältigend. „I’m blinded by the neon“, hat Tom Waits richtig erkannt, als er „drunk on the moon“ hier herumtorkelte. Alle sind sie jetzt da, um das Meer der Lichter und Farben und Bildschirme und Laufbänder und Reklametafeln zu bestaunen. Und wie es sich gehört für anständige Stuttgarter oder Leipziger, versucht man so auszusehen, als ob man in Paris, Texas geboren sei. Gelangweilt beobachtet ein Polizist die Szenerie und bearbeitet sein Kaugummi, das er sich wahrscheinlich mit dem Pferd unter seinem Sattel geteilt hat, beide bewegen synchron die Unterkiefer und lassen den nun immer voller werdenden Scheideweg die Menschenmassen teilen.

Längst sind die Zeiten vorbei, dass ein Ginsburg oder Scorsese hier unterwegs waren und von der Sehnsucht nach Geld oder Rausch angetriebene Nutten und Freier verewigten. „Times Square is clean.“ Der Scheideweg der Welt hat sich auf Druck der Behörden für ein familienfreundliches Business entschieden. Die Suche nach Süchten beschränkt sich heutzutage auf das Angebot der Megastores, die passend Virgin heißen. Die großen Networks haben in den vergangenen Jahren gläserne Studios eingerichtet und senden mal eine Morning-, mal eine Late Night Show von hier aus in die amerikanische Fernsehwelt. Für sie sind auf dem Broadway unzählige Koberer unterwegs, die am liebsten ein naives und provinzielles Publikum in die TV-Shows lotsen möchten.

In Wahrheit ist der Times Square der ödeste Ort der Welt. Alles dient allein zur Bekämpfung der offenbar größten Geißel der Menschheit: der Langeweile. Sämtliche Spielarten der Unterhaltungsindustrie schreien immer wieder eins heraus: Lasst uns so viel Zeit wie möglich vernichten. Inmitten der flimmernden Angebote setzt bald ein Gefühl von Ziel- und Zeitlosigkeit ein. Die Wirklichkeit verlangsamt sich, als ob jemand eine gigantische Taste für Zeitlupe gedrückt hätte. Besonders die Schwarzen bewegen sich mit ihren lächerlich übergroßen Jacken, Hosen und Kappen noch gemächlicher, als wollten sie jedem zeigen, dass sie dies alles nicht berühre, ihre Zeitrechnung sei sowieso eine völlig andere.

Doch noch ist es Februar, Jahr 2005. Und die Deutschen haben den Scheideweg fest im Griff. An jeder Ecke werden Einkaufstrophäen vorgeführt und günstige Dollarkurse gelobt. Fast eine Spur zu ordentlich ist es für ihren Geschmack und ganz anders als in „NYPD Blue“ und ähnlichen zu Hause weggeguckten Polizeiserien.

Es mangelt eindeutig an der Verbrechensfolklore, mischt sich fast schon etwas Traurigkeit in die Begeisterung. Jetzt ein anständiger Überfall, das wär’s! Einmal „gemugged“ werden, dafür habe man sich doch extra, wie im Reiseführer empfohlen, einen 20-Dollar-Schein in die Hemdentasche gesteckt. Doch leider tut niemand den Deutschen den Gefallen, die coolen New Yorker ziehen unbeirrt weiter. „It’s way wilder down the street.“

Am Scheideweg geht alles seinen gewohnten Gang. Dort gibt es kein Zurück – jedenfalls nicht zu den Gates in den Central Park. Die leichten Stoffsegel sind einfach nicht monumental genug. Da war der verpackte Reichstag vor zehn Jahren in Berlin aber ein ganz anderes Kaliber, heißt es am Times Square. Wie in einem Kitschroman steht derweil der Vollmond über Manhattan und sagt mal wieder gar nichts dazu. MICHAEL RINGEL