Das jüngste Opfer noch im Baby-Alter

In Angers wird der größte Prozess wegen Verbrechen an Kindern in der französischen Justizgeschichte eröffnet

PARIS taz ■ Vor dem Schwurgericht in Angers in Westfrankreich hat gestern ein Mammutprozess begonnen, in dem sich 66 Angeklagte wegen Vergewaltigung, sexuellen Missbrauchs und Prostitution von Kindern sowie Beihilfe und unterlassener Hilfeleistung verantworten müssen. Die 45 Opfer waren zur Tatzeit zwischen sechs Monate und zwölf Jahre alt.

Frankreich hat viele große Prozesse erlebt. Doch dieser sprengt jede Dimension. Das Ausmaß der Dramen, die sich während drei Jahren in der Siedlung Saint-Leonard am Rande von Angers in Gartenhäusern und Wohnwagen abspielten, übersteigt alle Vorstellungskraft. Im Mittelpunkt steht laut Anklage das Ehepaar Franck und Patricia V. Sie werden beschuldigt, zwischen 1999 und 2002 ein Netz der Kinderprostitution organisiert zu haben, in dem sie ihre eigenen Kinder wie Ware feilboten. Zwei andere Ehepaare sollen sich ihrem Treiben mit ihren Kindern angeschlossen haben. Um diesen inneren Zirkel, wie es die Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift nennt, bildete sich ein weiteres Netz, in dem ebenfalls Kinder sexuell missbraucht, vergewaltigt und gegen Geld oder Lebensmittelpakete prostituiert wurden.

Einigen der 66 Angeklagten – 39 Männer und 37 Frauen – drohen wegen der in Gemeinschaft begangenen Verbrechen des Inzests, der Vergewaltigung von Kindern und Zuhälterei Gefängnis von bis zu 20 Jahren. Andere müssen wegen Delikten sexueller Aggression gegen Kinder mit Haftstrafen von bis zu zehn Jahren rechnen. Acht Angeklagte müssen sich wegen unterlassener Hilfeleistung verantworten.

Etwa die Hälfte der Angeklagten kommt aus sozial schwachen Verhältnissen. Einige von ihnen können weder lesen noch schreiben und befinden sich, wie ihr Anwalt sagt, am Rande der Debilität. Mehrere sind in ihrer Kindheit selbst Opfer sexueller Misshandlungen gewesen, unter ihnen auch Franck und seine Frau Patricia.

Die Anklage stützt sich auf Geständnisse. Ein Drittel der mutmaßlichen Täter streitet die Vorwürfe ab. Materielle Beweise gibt es nicht. Fotos und Videos, von denen die Rede war, wurden nicht gefunden. Über dem Prozess, der vier Monate dauern und in dem 150 Zeugen vernommen werden sollen, liegt damit der Schatten des Prozesses der angeblichen Kinderschänder von Outreau, in dem im vergangenen Jahr 7 der 13 Angeklagten freigesprochen wurden, nachdem die Hauptangeklagte ihre Anschuldigungen gegen die Mitangeklagten zurückgezogen hatte. Die Staatsanwaltschaft in Angers ist davon überzeugt, dass sie eine hieb- und stichfeste Anklage vorgelegt hat. Die Opfer werden nicht vernommen. Sie sind so traumatisiert, dass ihnen, anders als im Fall Outreau, eine Gegenüberstellung mit ihren Peinigern erspart bleiben soll. HANS-HAGEN BREMER